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Karlheinz Stockhausen, „Texte zur Musik 1970 – 1977“, Band 4
Ausschnitt aus „Frage und Antworten zu den ‚Vier Kriterien ...’“
Seite 414 – Seite 421 oben
Frage: Es gibt eine Frage, die schon vorher einmal berührt wurde, zu der ich aber sehr gerne noch einmal zurückkommen würde, und das ist die Frage nach der Enthumanisierung in der Neuen Musik, über die die Leute so viel reden, besonders in Hinsicht auf die Elektronische Musik. Wie Sie wissen, wird ja als Kritik geäußert, daß erstens das Medium selbst ziemlich enthumanisiert ist, daß Dinge wie Sinusschwingungen sehr nackt und steril sind und daß sie all das menschlich Exzentrische nicht um sich herum haben, wie das sonst in den Konzertsälen der Fall ist; die zweite Kritik ist vielleicht tiefergehender, und die hat etwas mit dem tatsächlichen Inhalt zu tun. Obwohl Sie die Klänge nicht von der Form trennen, weil Sie sagen, sie sind die Formen, so gibt es doch eine Art von Inhalt, und der reflektiert wahrscheinlich ein gewisses soziales Phänomen. Die Frage ist tatsächlich, ob dieses Phänomen selbst so enthumanisiert ist, daß Kunst vielleicht ziemlich rasch sterben wird. Wenn die Kunst nicht die Fähigkeit hat, die grundsätzlichsten menschlichen Qualitäten wie Liebe und Haß und andere Dinge dieser Art zu berühren, kann sie dann überhaupt leben? Ist es dann überhaupt wertvolle Kunst?
Stockhausen: Es gibt zwei mögliche Antworten auf das, was Sie da sagen. Die erste ist, daß es gewiß ein Fehler wäre, alle Menschen als gleich zu betrachten.
Wie Albert Schweitzer einmal sagte, gibt es die ganze Skala zwischen dem Affen und dem Heiligen. Sie alle sehen mehr oder weniger wie Menschen aus. Es gibt einige, die sagen, daß jeder von seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr an für sein Gesicht verantwortlich ist. Damit ist gemeint, daß es nur ganz wenige unter uns gibt, die ständig am Grad der Erleuchtung und der Erweiterung ihres Bewußtseins arbeiten. Wir befinden uns in einem Zustand, in dem menschliche Wesen sich mit enormer Geschwindigkeit multiplizieren, und ich zweifle daran, daß die erleuchtetsten Wesen sich mit der höchsten Geschwindigkeit multiplizieren. Das bedeutet, daß das Unbewußte explodiert, und zwar auf eine sehr notwendige und gesunde Weise (und ich betone: das Un-Bewußte, nicht das Über- Bewußte) .
Die zweite Antwort auf Ihre Frage ist etwas esoterischer. Wenn Sie jemals den Namen Sri Aurobindo gehört haben, so wissen Sie vielleicht, daß er ein indischer Weiser war, der 1950 starb, und der mehrere tausend Jahre menschlicher Evolution - oder Involution, wie er es nannte - vorausgesehen hat. Im wesentlichen sagte er, daß wir uns heute in einer Situation befinden, die ganz vergleichbar ist mit der Situation, die wir zum Beispiel am Beginn des Filmes >2001< antreffen (das hat er natürlich nicht gesagt - ich füge das in Klammern hier hinzu), in der die ersten sogenannten Menschen aus dem Reich derjenigen Wesen aufstiegen, die die Wissenschaftler nicht als Menschen bezeichnen: Tiere, so würden wir sagen, obwohl heute wirklich viele Kontroversen darüber entbrannt sind, ob die Menschen nicht von einem bestimmten Zeitpunkt an als eine ganz besondere Spezies aufgetaucht sind. Wie dem auch sei, es gibt in dem Film >2001< den Augenblick, in dem ein Affe einen Knochen in die Hand nimmt und einen anderen damit tötet: Ein Blitzlicht der Intelligenz kommt in ihm auf, das ihn über die anderen erhebt, obwohl er physisch der Schwächere ist. Aurobindo sagt, daß wir uns am Anfang einer neuen terrestrischen Mutation befinden, in der wenige Wesen - zunächst sehr wenige sogar - sich in etwas anderes verwandeln, in eine Art über-menschlicher Wesen, und was Sie die Enthumanisierung nennen, ist tatsächlich die Furcht der Mehrheit, daß sie nicht mehr mitkäme.
Die Leute nennen so etwas Enthumanisierung; was sie wirklich meinen, ohne es in Worten formulieren zu können, ist nicht De-Humanisierung, sondern Super-Humanisierung - oder besser noch Supra-Humanisierung: ein enormer Sprung, wie vom Tier zum Menschen, so vom Menschen zu einem übermenschlichen Geist oder Wesen.
Was meine persönliche Erfahrung betrifft, so halte ich das ganz gewiß für wahr: es gibt Wesen unter den Menschen, die in jeder Hinsicht allen anderen weit überlegen sind, nicht nur in der Art, wie sie leben und sich verhalten, sondern in Hinsicht darauf, was sie tatsächlich tun können. Und gewiß reflektieren auch die Künste diesen ganzen Prozeß: natürlich ist es ein Moment extremer Krise, doch gleichzeitig ist es ein fruchtbarer Moment, wie er nur ganz selten in den Weltzeitaltern auftaucht, wenn alles auf eine neue Ebene umschaltet, oder besser, in der das Bewußtsein sich auf eine neue Stufe erhebt (wenn auch nicht in großer Zahl). Wir könnten Aurobindo fragen, warum nicht alle Tiere Menschen geworden sind. Und darauf gäbe es heute die Antwort, daß es fast so ist (die Hühnerfarmen verlangsamen zwar diesen Prozeß ein wenig, aber was man als Hühner zu essen bekommt, ist auch eher Pappe, als tierisches Fleisch). Ich meine damit, daß wir fast die gesamte Pflanzen- und Tierkruste aufgegessen und in menschliche Knochen und menschliches Fleisch verwandelt haben, und daß dieser Prozeß mit enormer Geschwindigkeit weitergeht bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts oder noch länger darüber hinaus, wenn wir vielleicht 15 Milliarden Menschen auf diesem Planeten haben und die Nahrung vom Grund des Meeres gekratzt wird oder man sie künstlich durch Chemikalien herstellt: was wir schließlich essen, ist weniger wichtig, solange es diese Körperlichkeit in Funktion hält für die neuen Aufgaben. Ich meine, daß schließlich alles in Menschen verwandelt wird, und daß dann die Tiere ganz verschwunden sein werden (vielleicht können wir dann noch einige Exemplare in den Zoos und auf Photographien anschauen).
Das Prinzip war, alles in Menschen zu verwandeln, und so wird natürlich die nächste Stufe sein: was wird aus diesen Menschen werden? Im Augenblick können wir noch sagen, daß es nur sehr wenige gibt, die daran überhaupt interessiert sind; die allgemeine Angst, die weltweite Krise, reflektiert einfach diesen Prozeß. Die meisten Menschen spüren in sich diese innere Uhr, die ihnen sagt, wohin die Evolution geht, und daß sie es in diesem Leben nicht schaffen werden.
Dieses Grundgefühl erzeugt Haß und Feindschaft und Gott weiß was sonst noch: Auslöschung, Unterdrückung, Gleichschaltung in faschistischen, sozialistischen, demokratischen Systemen, die alle gemeinsam haben, daß sie 'Einheits-Lösungen' für alle und alles verlangen. Sie sind die Zeichen für Tod und Wiedergeburt der Menschheit.
Frage: Schreiben Sie denn Musik für die über-menschliche Minorität?
Stockhausen: Nun, wenn Sie dazu gehören wollen, ja. Ich schreibe überhaupt nicht Musik für bestimmte Menschen, was bedeutet, daß ich Musik schreibe, weil sie geschrieben werden muß; sie kommt in mich hinein und ich muß sehr hart daran arbeiten, sie so genau wie möglich zu komponieren, und dann können Sie damit machen, was Sie wollen.
Frage: Wenn Sie so viel Zeit darauf verwenden, Ihre Musik herzustellen und zu kommunizieren, stört es Sie dann nicht, daß sie nicht mit einer großen Zahl der Menschheit kommuniziert?
Stockhausen: Oh nein. Wenn ich das gewollt hätte, so wäre ich der beste Konkurrent der Beatles gewesen, und was die für nur sieben Jahre geschafft haben, hätte ich wahrscheinlich ein bißchen länger geschafft, denn Sie können sicher sein, daß ich niemals in solch einem Quartett gearbeitet hätte. Nein, wann immer die große Menge sich nach der Mode richtet, dann richtet sie sich nach Mittelmäßigkeit und Banalität.
Frage: Was schlagen Sie vor, wie wir zwischen Elektronischer Musik und musikalischem Abfall unterscheiden sollen?
Stockhausen: Die meiste Elektronische Musik ist Abfall: Das steht außer Frage. Die untalentiertesten Komponisten sind in Studios aufgetaucht, weil sie keine Chance hatten, irgendwo anders zu komponieren, und so sitzen sie also in den Studios herum und sagen sich: »Nun gut, schau Dich um, versuch Dein Glück« - und da sind sie also. Denn sie glauben mehr an die Mittel als an sich selbst: sie meinen, wenn sie moderne Mittel verwenden, so würde das Ergebnis interessant sein wegen der Mittel - was ein fürchterlicher Irrtum ist.
Frage: Meinen Sie, daß bei den Hörern Ihrer Musik ein angemessenes Niveau des Bewußtseins vorhanden sein müßte, so daß sie all die Klänge überhaupt wahrnehmen könnten?
Stockhausen: Es wäre wunderbar, wenn die Erleuchtung des Bewußtseins zunehmen würde, aber wie ich schon sagte, gibt es da sehr kritische Grenzen, und die kann man nicht einfach überschreiten. So habe ich keine Illusionen über die Zukunft. Wie ich schon vorher erwähnte, benutzt sowieso jeder meine Musik, wie er will : Wenn ich mir heute Abend bei einem Autounglück den Hals bräche, so wäre das eigentlich von sehr geringer Bedeutung für die anderen - die Leute würden sowieso in Zukunft meine Musik so verwenden, wie sie wollen. Sie sind absolut frei, und es sollte keine Regeln geben, die den Leuten vorschreiben, was sie über meine Musik zu denken haben und wie sie sie erfahren sollen, denn jeder ist verschieden. In diesem Sinne bin ich Subjektivist, und ich schlage vor, daß jeder sich seinen eigenen Reim machen sollte über sein Leben, über die Welt und über Stockhausens Musik.
Frage: Was Sie sagen, bringt mich darauf, daß es vielleicht eine Verbindung gibt zwischen jener Art von Erfahrungen, an denen Sie interessiert sind, und den Erfahrungen, die jedenfalls einige Leute mit 'psychedelic' (Drogen- ) Erfahrungen beschrieben haben. Sind Sie sich dieser Verbindung bewußt?
Stockhausen: Natürlich gehört in der gegenwärtigen Szene alles zusammen, aber da gibt es eine dringende Antwort: Diejenigen, die es nicht durch geistigen Yoga schaffen, versuchen es durch Chemikalien. Das Störende daran ist jedoch, daß sie einfach umfallen, wenn die Chemikalien nicht im Körper sind - sie fallen auf die Nase und brauchen die Drogen gleich wieder, um jenes Niveau einer passiven und total unegozentrischen Wahrnehmung wieder zu erreimen.
Was ich will ist eine geistige Disziplin, durch die jemand auf ein Niveau kommt, das er nicht wieder verliert, und das er auch anderen weitervermitteln kann; so kann man wirklich produktiv sein und der Gemeinschaft dienen, wenn man sich in einem Zustand befindet, in dem man ständig geben kann, sozusagen eine Überproduktion hat. Ich habe aber während meines Lebens sehr liebenswürdige Menschen kennengelernt, die fast völlig an der übrigen Welt uninteressiert wurden, wenn sie sich in diesem Zustand befanden.
Frage: Man findet in Räumen, in denen Musik von Stockhausen gespielt wird, Leute, die dazu neigen, auch Marihuana zu rauchen. Stört es Sie, daß es eine Verbindung zwischen den beiden gibt?
Stockhausen: Eigentlich nicht. Ich erinnere mich, daß mein persönlicher Assistent, ein Amerikaner, mir erzählte, er hätte die unwahrscheinlich verlangsamte Zeit in KONTAKTE zum ersten Mal unter dem Einfluß von LSD gehört. Er hörte Dinge, die er eindeutig vorher noch nie erlebt hatte zu der Zeit, in der er Student einer Kompositionsklasse war. Diese Mittel erweitern also ganz klar die Schärfe und Tiefe der Wahrnehmung. Sie beschleunigen unsere Wahrnehmungszeit, oder verlangsamen sie.
Realistische Futurologen sagen schon, daß um das Jahr 2000 herum 9 von 10 Menschen ständig unter dem Einfluß irgendeiner von vielen verschiedenen Drogen stehen werden, und nicht nur einer der wenigen, die wir heute kennen.
Man wird Drogen dann auf eine ganz normale Weise kaufen können, denn es wird in der modernen Gesellschaft immer mehr dem Einzelnen überlassen werden, was er mit sich selbst tut. Man wird Drogen kaufen können, die die Geschwindigkeit einer Person auf das Niveau von einem Tier verlangsamen, das 400 Jahre lang lebt, so daß man zum Beispiel die Wahrnehmung einer Schildkröte hat; oder man wird die Wahrnehmung beschleunigen bis auf das Zeitniveau einer Eintagsfliege, was bedeutet, daß man in einem Tag so viel erlebt, wie eine andere Person in 70 Jahren. Das einzige Problem dabei ist, für wie lange Zeit man den menschlichen Körper auf diese Weise strapazieren kann, und daß man diese verschiedenen Stadien von Zeit und Raum nicht ohne Chemikalien erreicht. Es wird dann natürlich ein sehr komplizierter Zustand der Kommunikation eintreten, denn man weiß nie, auf welcher Wellenlänge der Partner ist. Man wird ihn fragen müssen: „Bist Du auf 200 oder 400? Kannst Du Dich auf mich einschalten, denn ich möchte gerne mit Dir reden?“ Für den Höhepunkt der Krise kann man eine totale Atomisierung der Gemeinschaft voraussehen; denn die Sorge, von der ich früher sprach, ob man nämlich diesen enormen geistigen Sprung schaffen wird, diese Sorge ruft natürlich Existenzangst hervor: Viele wollen das erfahren, was von berühmten Yogis oder Lamas beschrieben wird - man liest über sie und spürt auch, daß es sich dort um etwas ganz Grundsätzliches, etwas ganz Wichtiges handelt.
Ich meine, wir sollten versuchen, diese Fähigkeiten zu erlangen, aber wir sollten sie auf geistigem Wege finden. Man kann es chemisch versuchen, aber das hat sehr große Nachteile. Ein Körper kann nicht in beliebiger Weise strapaziert werden: er bricht.
Frage: Wie würden Sie eine Person, die nicht 'super' ist, beraten, das Bewußtsein zu erweitern, um das wahrzunehmen, wovon Sie sprechen? Was sollen wir ohne den Gebrauch von Drogen tun, um unseren Geist zu erweitern und diese neue Herausforderung zu erfüllen, die Sie an uns stellen?
Stockhausen: Nun, da gibt es viele Wege. Es sind zahlreiche Bücher vorhanden, die das sehr viel besser beschreiben, als ich es könnte. Lesen Sie zum Beispiel das Buch >Concentration< von Mouni Sadhu - Sie können es in irgendeinem Buchladen bestellen. Der zeigt Ihnen, was Sie als tägliche Übungen machen können. Dann gibt es noch ein anderes Buch mir dem Namen >Samadhi< vom gleichen Autor (er ist besonders gut, deshalb erwähne ich ihn); ein anderes hat den Titel, >The Tarot<. Es gibt wirklich heutzutage sehr viel, was uns helfen könnte, diese neuen Fähigkeiten zu erlangen, die über das hinausgehen, was wir in Schulen und Universitäten gelernt haben. Und das beginnt gerade erst.
Ausschnitt aus „Frage und Antworten zu den ‚Vier Kriterien ...’“
Seite 414 – Seite 421 oben
Frage: Es gibt eine Frage, die schon vorher einmal berührt wurde, zu der ich aber sehr gerne noch einmal zurückkommen würde, und das ist die Frage nach der Enthumanisierung in der Neuen Musik, über die die Leute so viel reden, besonders in Hinsicht auf die Elektronische Musik. Wie Sie wissen, wird ja als Kritik geäußert, daß erstens das Medium selbst ziemlich enthumanisiert ist, daß Dinge wie Sinusschwingungen sehr nackt und steril sind und daß sie all das menschlich Exzentrische nicht um sich herum haben, wie das sonst in den Konzertsälen der Fall ist; die zweite Kritik ist vielleicht tiefergehender, und die hat etwas mit dem tatsächlichen Inhalt zu tun. Obwohl Sie die Klänge nicht von der Form trennen, weil Sie sagen, sie sind die Formen, so gibt es doch eine Art von Inhalt, und der reflektiert wahrscheinlich ein gewisses soziales Phänomen. Die Frage ist tatsächlich, ob dieses Phänomen selbst so enthumanisiert ist, daß Kunst vielleicht ziemlich rasch sterben wird. Wenn die Kunst nicht die Fähigkeit hat, die grundsätzlichsten menschlichen Qualitäten wie Liebe und Haß und andere Dinge dieser Art zu berühren, kann sie dann überhaupt leben? Ist es dann überhaupt wertvolle Kunst?
Stockhausen: Es gibt zwei mögliche Antworten auf das, was Sie da sagen. Die erste ist, daß es gewiß ein Fehler wäre, alle Menschen als gleich zu betrachten.
Wie Albert Schweitzer einmal sagte, gibt es die ganze Skala zwischen dem Affen und dem Heiligen. Sie alle sehen mehr oder weniger wie Menschen aus. Es gibt einige, die sagen, daß jeder von seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr an für sein Gesicht verantwortlich ist. Damit ist gemeint, daß es nur ganz wenige unter uns gibt, die ständig am Grad der Erleuchtung und der Erweiterung ihres Bewußtseins arbeiten. Wir befinden uns in einem Zustand, in dem menschliche Wesen sich mit enormer Geschwindigkeit multiplizieren, und ich zweifle daran, daß die erleuchtetsten Wesen sich mit der höchsten Geschwindigkeit multiplizieren. Das bedeutet, daß das Unbewußte explodiert, und zwar auf eine sehr notwendige und gesunde Weise (und ich betone: das Un-Bewußte, nicht das Über- Bewußte) .
Die zweite Antwort auf Ihre Frage ist etwas esoterischer. Wenn Sie jemals den Namen Sri Aurobindo gehört haben, so wissen Sie vielleicht, daß er ein indischer Weiser war, der 1950 starb, und der mehrere tausend Jahre menschlicher Evolution - oder Involution, wie er es nannte - vorausgesehen hat. Im wesentlichen sagte er, daß wir uns heute in einer Situation befinden, die ganz vergleichbar ist mit der Situation, die wir zum Beispiel am Beginn des Filmes >2001< antreffen (das hat er natürlich nicht gesagt - ich füge das in Klammern hier hinzu), in der die ersten sogenannten Menschen aus dem Reich derjenigen Wesen aufstiegen, die die Wissenschaftler nicht als Menschen bezeichnen: Tiere, so würden wir sagen, obwohl heute wirklich viele Kontroversen darüber entbrannt sind, ob die Menschen nicht von einem bestimmten Zeitpunkt an als eine ganz besondere Spezies aufgetaucht sind. Wie dem auch sei, es gibt in dem Film >2001< den Augenblick, in dem ein Affe einen Knochen in die Hand nimmt und einen anderen damit tötet: Ein Blitzlicht der Intelligenz kommt in ihm auf, das ihn über die anderen erhebt, obwohl er physisch der Schwächere ist. Aurobindo sagt, daß wir uns am Anfang einer neuen terrestrischen Mutation befinden, in der wenige Wesen - zunächst sehr wenige sogar - sich in etwas anderes verwandeln, in eine Art über-menschlicher Wesen, und was Sie die Enthumanisierung nennen, ist tatsächlich die Furcht der Mehrheit, daß sie nicht mehr mitkäme.
Die Leute nennen so etwas Enthumanisierung; was sie wirklich meinen, ohne es in Worten formulieren zu können, ist nicht De-Humanisierung, sondern Super-Humanisierung - oder besser noch Supra-Humanisierung: ein enormer Sprung, wie vom Tier zum Menschen, so vom Menschen zu einem übermenschlichen Geist oder Wesen.
Was meine persönliche Erfahrung betrifft, so halte ich das ganz gewiß für wahr: es gibt Wesen unter den Menschen, die in jeder Hinsicht allen anderen weit überlegen sind, nicht nur in der Art, wie sie leben und sich verhalten, sondern in Hinsicht darauf, was sie tatsächlich tun können. Und gewiß reflektieren auch die Künste diesen ganzen Prozeß: natürlich ist es ein Moment extremer Krise, doch gleichzeitig ist es ein fruchtbarer Moment, wie er nur ganz selten in den Weltzeitaltern auftaucht, wenn alles auf eine neue Ebene umschaltet, oder besser, in der das Bewußtsein sich auf eine neue Stufe erhebt (wenn auch nicht in großer Zahl). Wir könnten Aurobindo fragen, warum nicht alle Tiere Menschen geworden sind. Und darauf gäbe es heute die Antwort, daß es fast so ist (die Hühnerfarmen verlangsamen zwar diesen Prozeß ein wenig, aber was man als Hühner zu essen bekommt, ist auch eher Pappe, als tierisches Fleisch). Ich meine damit, daß wir fast die gesamte Pflanzen- und Tierkruste aufgegessen und in menschliche Knochen und menschliches Fleisch verwandelt haben, und daß dieser Prozeß mit enormer Geschwindigkeit weitergeht bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts oder noch länger darüber hinaus, wenn wir vielleicht 15 Milliarden Menschen auf diesem Planeten haben und die Nahrung vom Grund des Meeres gekratzt wird oder man sie künstlich durch Chemikalien herstellt: was wir schließlich essen, ist weniger wichtig, solange es diese Körperlichkeit in Funktion hält für die neuen Aufgaben. Ich meine, daß schließlich alles in Menschen verwandelt wird, und daß dann die Tiere ganz verschwunden sein werden (vielleicht können wir dann noch einige Exemplare in den Zoos und auf Photographien anschauen).
Das Prinzip war, alles in Menschen zu verwandeln, und so wird natürlich die nächste Stufe sein: was wird aus diesen Menschen werden? Im Augenblick können wir noch sagen, daß es nur sehr wenige gibt, die daran überhaupt interessiert sind; die allgemeine Angst, die weltweite Krise, reflektiert einfach diesen Prozeß. Die meisten Menschen spüren in sich diese innere Uhr, die ihnen sagt, wohin die Evolution geht, und daß sie es in diesem Leben nicht schaffen werden.
Dieses Grundgefühl erzeugt Haß und Feindschaft und Gott weiß was sonst noch: Auslöschung, Unterdrückung, Gleichschaltung in faschistischen, sozialistischen, demokratischen Systemen, die alle gemeinsam haben, daß sie 'Einheits-Lösungen' für alle und alles verlangen. Sie sind die Zeichen für Tod und Wiedergeburt der Menschheit.
Frage: Schreiben Sie denn Musik für die über-menschliche Minorität?
Stockhausen: Nun, wenn Sie dazu gehören wollen, ja. Ich schreibe überhaupt nicht Musik für bestimmte Menschen, was bedeutet, daß ich Musik schreibe, weil sie geschrieben werden muß; sie kommt in mich hinein und ich muß sehr hart daran arbeiten, sie so genau wie möglich zu komponieren, und dann können Sie damit machen, was Sie wollen.
Frage: Wenn Sie so viel Zeit darauf verwenden, Ihre Musik herzustellen und zu kommunizieren, stört es Sie dann nicht, daß sie nicht mit einer großen Zahl der Menschheit kommuniziert?
Stockhausen: Oh nein. Wenn ich das gewollt hätte, so wäre ich der beste Konkurrent der Beatles gewesen, und was die für nur sieben Jahre geschafft haben, hätte ich wahrscheinlich ein bißchen länger geschafft, denn Sie können sicher sein, daß ich niemals in solch einem Quartett gearbeitet hätte. Nein, wann immer die große Menge sich nach der Mode richtet, dann richtet sie sich nach Mittelmäßigkeit und Banalität.
Frage: Was schlagen Sie vor, wie wir zwischen Elektronischer Musik und musikalischem Abfall unterscheiden sollen?
Stockhausen: Die meiste Elektronische Musik ist Abfall: Das steht außer Frage. Die untalentiertesten Komponisten sind in Studios aufgetaucht, weil sie keine Chance hatten, irgendwo anders zu komponieren, und so sitzen sie also in den Studios herum und sagen sich: »Nun gut, schau Dich um, versuch Dein Glück« - und da sind sie also. Denn sie glauben mehr an die Mittel als an sich selbst: sie meinen, wenn sie moderne Mittel verwenden, so würde das Ergebnis interessant sein wegen der Mittel - was ein fürchterlicher Irrtum ist.
Frage: Meinen Sie, daß bei den Hörern Ihrer Musik ein angemessenes Niveau des Bewußtseins vorhanden sein müßte, so daß sie all die Klänge überhaupt wahrnehmen könnten?
Stockhausen: Es wäre wunderbar, wenn die Erleuchtung des Bewußtseins zunehmen würde, aber wie ich schon sagte, gibt es da sehr kritische Grenzen, und die kann man nicht einfach überschreiten. So habe ich keine Illusionen über die Zukunft. Wie ich schon vorher erwähnte, benutzt sowieso jeder meine Musik, wie er will : Wenn ich mir heute Abend bei einem Autounglück den Hals bräche, so wäre das eigentlich von sehr geringer Bedeutung für die anderen - die Leute würden sowieso in Zukunft meine Musik so verwenden, wie sie wollen. Sie sind absolut frei, und es sollte keine Regeln geben, die den Leuten vorschreiben, was sie über meine Musik zu denken haben und wie sie sie erfahren sollen, denn jeder ist verschieden. In diesem Sinne bin ich Subjektivist, und ich schlage vor, daß jeder sich seinen eigenen Reim machen sollte über sein Leben, über die Welt und über Stockhausens Musik.
Frage: Was Sie sagen, bringt mich darauf, daß es vielleicht eine Verbindung gibt zwischen jener Art von Erfahrungen, an denen Sie interessiert sind, und den Erfahrungen, die jedenfalls einige Leute mit 'psychedelic' (Drogen- ) Erfahrungen beschrieben haben. Sind Sie sich dieser Verbindung bewußt?
Stockhausen: Natürlich gehört in der gegenwärtigen Szene alles zusammen, aber da gibt es eine dringende Antwort: Diejenigen, die es nicht durch geistigen Yoga schaffen, versuchen es durch Chemikalien. Das Störende daran ist jedoch, daß sie einfach umfallen, wenn die Chemikalien nicht im Körper sind - sie fallen auf die Nase und brauchen die Drogen gleich wieder, um jenes Niveau einer passiven und total unegozentrischen Wahrnehmung wieder zu erreimen.
Was ich will ist eine geistige Disziplin, durch die jemand auf ein Niveau kommt, das er nicht wieder verliert, und das er auch anderen weitervermitteln kann; so kann man wirklich produktiv sein und der Gemeinschaft dienen, wenn man sich in einem Zustand befindet, in dem man ständig geben kann, sozusagen eine Überproduktion hat. Ich habe aber während meines Lebens sehr liebenswürdige Menschen kennengelernt, die fast völlig an der übrigen Welt uninteressiert wurden, wenn sie sich in diesem Zustand befanden.
Frage: Man findet in Räumen, in denen Musik von Stockhausen gespielt wird, Leute, die dazu neigen, auch Marihuana zu rauchen. Stört es Sie, daß es eine Verbindung zwischen den beiden gibt?
Stockhausen: Eigentlich nicht. Ich erinnere mich, daß mein persönlicher Assistent, ein Amerikaner, mir erzählte, er hätte die unwahrscheinlich verlangsamte Zeit in KONTAKTE zum ersten Mal unter dem Einfluß von LSD gehört. Er hörte Dinge, die er eindeutig vorher noch nie erlebt hatte zu der Zeit, in der er Student einer Kompositionsklasse war. Diese Mittel erweitern also ganz klar die Schärfe und Tiefe der Wahrnehmung. Sie beschleunigen unsere Wahrnehmungszeit, oder verlangsamen sie.
Realistische Futurologen sagen schon, daß um das Jahr 2000 herum 9 von 10 Menschen ständig unter dem Einfluß irgendeiner von vielen verschiedenen Drogen stehen werden, und nicht nur einer der wenigen, die wir heute kennen.
Man wird Drogen dann auf eine ganz normale Weise kaufen können, denn es wird in der modernen Gesellschaft immer mehr dem Einzelnen überlassen werden, was er mit sich selbst tut. Man wird Drogen kaufen können, die die Geschwindigkeit einer Person auf das Niveau von einem Tier verlangsamen, das 400 Jahre lang lebt, so daß man zum Beispiel die Wahrnehmung einer Schildkröte hat; oder man wird die Wahrnehmung beschleunigen bis auf das Zeitniveau einer Eintagsfliege, was bedeutet, daß man in einem Tag so viel erlebt, wie eine andere Person in 70 Jahren. Das einzige Problem dabei ist, für wie lange Zeit man den menschlichen Körper auf diese Weise strapazieren kann, und daß man diese verschiedenen Stadien von Zeit und Raum nicht ohne Chemikalien erreicht. Es wird dann natürlich ein sehr komplizierter Zustand der Kommunikation eintreten, denn man weiß nie, auf welcher Wellenlänge der Partner ist. Man wird ihn fragen müssen: „Bist Du auf 200 oder 400? Kannst Du Dich auf mich einschalten, denn ich möchte gerne mit Dir reden?“ Für den Höhepunkt der Krise kann man eine totale Atomisierung der Gemeinschaft voraussehen; denn die Sorge, von der ich früher sprach, ob man nämlich diesen enormen geistigen Sprung schaffen wird, diese Sorge ruft natürlich Existenzangst hervor: Viele wollen das erfahren, was von berühmten Yogis oder Lamas beschrieben wird - man liest über sie und spürt auch, daß es sich dort um etwas ganz Grundsätzliches, etwas ganz Wichtiges handelt.
Ich meine, wir sollten versuchen, diese Fähigkeiten zu erlangen, aber wir sollten sie auf geistigem Wege finden. Man kann es chemisch versuchen, aber das hat sehr große Nachteile. Ein Körper kann nicht in beliebiger Weise strapaziert werden: er bricht.
Frage: Wie würden Sie eine Person, die nicht 'super' ist, beraten, das Bewußtsein zu erweitern, um das wahrzunehmen, wovon Sie sprechen? Was sollen wir ohne den Gebrauch von Drogen tun, um unseren Geist zu erweitern und diese neue Herausforderung zu erfüllen, die Sie an uns stellen?
Stockhausen: Nun, da gibt es viele Wege. Es sind zahlreiche Bücher vorhanden, die das sehr viel besser beschreiben, als ich es könnte. Lesen Sie zum Beispiel das Buch >Concentration< von Mouni Sadhu - Sie können es in irgendeinem Buchladen bestellen. Der zeigt Ihnen, was Sie als tägliche Übungen machen können. Dann gibt es noch ein anderes Buch mir dem Namen >Samadhi< vom gleichen Autor (er ist besonders gut, deshalb erwähne ich ihn); ein anderes hat den Titel, >The Tarot<. Es gibt wirklich heutzutage sehr viel, was uns helfen könnte, diese neuen Fähigkeiten zu erlangen, die über das hinausgehen, was wir in Schulen und Universitäten gelernt haben. Und das beginnt gerade erst.