"...Grunde, warum man Russland verlassen muss, finden die Menschen viele. Welche zu bleiben in der Regel weniger. Dabei sind diese viel existentieller. Die möchte man nachempfinden, sich zu eigen machen.
»Warum ich nicht weggehe? Weil ich hier lebe ... hier fühle, mich hier ... verliebe.«
Rennt nicht weg! Verliebt euch!
An der Passkontrolle des Moskauer Flughafens Scheremetjewo. Wir kehren gerade nach Russland zurück. Der junge Grenzer nimmt meinen Pass, tippt was in den Computer, nimmt noch mal meinen Pass, schaut ganz genau. Greift zum Hörer. Fragt: »Tolokonnikowa, Nadja Andrejewna. Durchlassen?«
Hört die Anweisungen, nickt. Drückt mir einen Stempel in den Pass, lässt mich durch.
Mascha ist die Nächste. Der Grenzer hämmert ihre Daten in den Computer und holt tief Luft.
»Junge Frau, was macht man mit Ihnen an der Grenze denn sonst so?«
»???«
»Na, wenn Sie an die Passkontrolle kommen und da sitzt so ein junger Kerl wie ich – was macht der? Ruft der seinen Vor- gesetzten an?«
»Bin ich, ehrlich gesagt, überfragt. Was denn, ist es so schlimm?« Mascha nickt Richtung Computer.
»Na ja, könnte schlimmer sein, aber gut ist anders.«
...
Wovon man mich nicht alles abhalten wollte: Tu dies nicht, rede mit dem nicht, geh dort nicht hin. Bitte keine Aktionen. Lieder auch nicht. Nur angemessene Fotos. Was immer ich mir ausdenke, ist zu dreist, zu provokativ.
Ich wähle das Handeln. Ab und zu kriege ich dafür eins auf die Nuss – alles hat seinen Preis. Entscheide dich. Bete nicht. Hör auf dein Inneres. Lebe.
»Der Feminismus ist in Russland nicht organisch gewachsen, er entbehrt hier jeder Grundlage. Der Feminismus zielt darauf ab, die Grundfesten des Christentums zu zerstören. Der Feminis- mus versucht, die Frau mit dem Mann auf eine Stufe zu stel- len, sie ihrer weiblichen Vorzüge zu berauben. Die Frau wird dem Mann weggenommen. Der Feminismus zerstört die Fami- lie. Besondere Rechte für Männer, Frauen und Kinder zerstö- ren die Familie. Wir als Getaufte müssen den Feminismus als Gift betrachten, das, wenn es in das Bewusstsein der Gesell- schaft und der Familie eindringt, den Menschen unglücklich macht.«
(Erzpriester Dmitri Smirnow, populärer Sprecher der russisch-ortho- doxen Kirche)
Wir hatten schon immer eine Vorliebe für YouTube-Filmchen mit dem Erzpriester Smirnow. Er war unsere Sonne, einer der- jenigen, die uns zu Pussy Riot inspirierten. Wir lagen unterm Tisch, wenn wir seine Auftritte anschauten – und wie wir so herunterkugelten, kam uns die Idee, eine feministische Punk- Band zu gründen.
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Eine Frage an Pussy Riot liegt auf der Hand:
»Was zum Teufel macht ihr Mädels da? Warum sitzt ihr nicht einfach auf dem Sofa und trinkt Bier?«
Was zwingt uns zu handeln? Die Tatsache, dass die wichtigs- ten politischen Institutionen unseres Landes Sicherheitsorga- ne, Armee, Polizei, Geheimdienste und Gefängnisse sind. Und ein durchgedrehter Möchtegern-Superheld, der halbnackt auf Pferden reitet und vor nichts und niemandem Angst hat, außer vor Homosexuellen. Ein Mann, der so großzügig ist, dass er das halbe Land an seine engsten Freunde verschenkt hat – die Oligarchen.
Erst wenn wir gemeinsam handeln, können wir andere Institu- tionen etablieren.
Anfang 2012. Wir tragen Sturmhauben und reden mit Journa- listen. Niemand hat je unsere Gesichter gesehen. Die Strumpf- hosen jucken an den Beinen. Die Wolle dringt in Mund und Augen. Die Sturmhauben sind mit der Nudelsauce und der Piz- za verschmiert, die wir während des Interviews essen, ab und zu gibt es Brandlöcher, weil wir rauchen.
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Macht haben nicht diejenigen, die über Posten und Gefange- nentransporter verfügen, sondern diejenigen, die ihre Angst überwinden. Es ist ganz einfach: Hab keine Angst.
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Als der Staat beschloss, uns zu verhaften, waren wir keine pro- fessionellen Politikerinnen, Revolutionärinnen oder Mitglieder einer Untergrundorganisation. Wir waren Aktivistinnen und Künstlerinnen. Ein wenig naiv und offenherzig, wie das bei Künstlern eben vorkommt. ..."