So kann man das auch sehen:
Kunst und Zeiten
Wir haben das deutsche Wort Kunst. Es deutet hin auf ein Können. Was soll hier gekonnt werden? Der alte Mensch sagt: »Ein Können aus uns gibt es nicht, denn die ganze Welt, von der wir nur ein winziger Teil sind, steht neben uns, und sie kann viel richtiger als wir, so viel richtiger, daß unser Können nur ein Nachahmen sein kann, eine Imitation der durchaus gekonnten Natur.« Es ist hier für diese Anschauung gleichgültig, ob die Nachahmung streng oder persönlich ist; Nachahmung bleibt Nachahmung. Die Nachahmung ist Schwäche und Irrtum. So entstanden Imitations-Landschaften und Porträts, Programmusik, und endlich auch die sogenannten Stile, die unsere Zeit überfluten.
Man muß aber qualitativ werten, und da stehen wir als einzelner Mensch einer Welt gegenüber, die zwar als Menge den einzelnen weit übertrifft, aber im Wesen uns gleich ist. Wir werden durch den Verkehr mit der Welt das, was wir werden konnten, und wir werden als aufmerksame Weltbürger der Welt immer verwandter. Nun sehen wir das gleiche Streben, Wachsen, Werden und Vergehen bei uns wie bei unserer Umwelt. Es wird dieses besonders deutlich beim Kunstwerk. Wenn Sie wesentlich sehen, dann erscheint Ihnen das Kunstwerk, ich meine hier etwa Werke von Braque, Gleizes, Boccioni, van der Leck, Mondrian, Doesburg, Malewitsch, Lissitzky, Moholy, Hans Arp, Mies van der Rohe, Hilberseimer, Domela, von mir selbst oder auch die Arbeiten eines noch unverbildeten Kindes, also dann erscheint Ihnen das Kunstwerk als Einheit. Die Einheit ist zeitlich und räumlich begrenzt, als Ding, das aus sich wächst, in sich ruht und unterscheidet sich wesentlich nicht von anderen Dingen in der Natur.
Das frühere, imitierende Bild aber unterscheidet sich bedeutend von der umgebenden Welt, es war wesentlich bloß Imitation, während das neue naturalistische Kunstwerk wächst wie die Natur selbst, also ihr verwandter ist, als die Imitation je sein konnte. Ich verweise hier auf das Heft >Nasci, MERZ 8/9<, das ich mit Lissitzky zusammengestellt habe. Sie sehen dort deutlich demonstriert die wesentliche Gleichheit von einer Zeichnung Lissitzkys und einem Kristall, von einem Hochhause von Mies van der Rohe und dem streng sparsamen Aufbau eines Oberschenkelknochens. Sie werden die konstruktive Tendenz der Stellung der Blätter zum Stengel erkennen, Sie werden die fotografierte Oberfläche des Mars für ein abstraktes Gemälde, etwa von Kandinsky, halten, weil es bloß durch einen schwarzen Streifen eingerahmt ist. Sie werden bei meinem >i<-Bilde sehen, daß die Natur, der Zufall, oder wie Sie es nennen wollen, oft Dinge zusammenträgt, die in sich dem entsprechen, was wir Rhythmus nennen.
Die einzige Tat des Künstlers ist hier: erkennen und begrenzen. Und im letzten Grunde ist das überhaupt die einzige Tat, deren ein Künstler überhaupt fähig ist: begrenzen und erkennen. Denn wenn auch der Kristall [einen] wesentlich gleichen Aufbau hat wie die Zeichnung von Lissitzky, so ist er doch Kristall, nicht Kunstwerk, während Lissitzkys Zeichnung Kunstwerk, nicht Kristall ist. Das Erkennen von Kunst aber ist eine angeborene Fähigkeit, entstanden aus dem angeborenen Triebe, sich schöpferisch künstlerisch, ordnend künstlerisch betätigen zu müssen.
Und so kommen wir auf die Ursache der Kunst, sie ist ein Trieb, wie der Trieb, zu leben, zu essen, zu lieben. Triebe sind begründet im Gesetz des Menschen, und der Trieb zu etwas kann bei einem Menschen stark, bei einem anderen Menschen schwach vorhanden sein. Triebe sind aber nicht im Zusammenhang mit der sozialen Einstellung oder der Bildungsstufe des Menschen [zu sehen]. Da nun, soviel ich beurteilen kann, durch Vorhandensein des Kunsttriebes keine natürliche Auswahl im Sinne Darwins stattfinden kann, weil der Kunsttrieb für die übrige Entwicklung des Lebens belanglos ist, so ist als bestimmt anzunehmen, daß die durchschnittliche Häufigkeit des Vorkommens dieses Kunsttriebes zu allen Zeiten und in allen Kulturen gleich ist. Aber immer nur sind wenige Menschen künstlerisch begabt. Diese wenigen nehmen dadurch eine Ausnahmestellung ein, und je nach der Mode lacht man über sie, oder man empört sich, oder man vergöttert sie. Kunstvölker oder Kunstzeiten, etwa wie Griechenland, Renaissance, gibt es nicht, es gibt nur Zeiten der Kunstmode. Wir haben soeben eine Zeit der Kunstmode hinter uns, und als Reaktion darauf ist die Kunst jetzt sehr unmodern geworden. Aber man darf sich dadurch nicht täuschen lassen.
Darum taugt unsere Zeit ebensogut zur reinen Betätigung der Kunst wie alle anderen Zeiten, und es wäre eine Selbsttäuschung, etwa anzunehmen, daß die Kunst nicht mehr in unsere Zeit oder in die Zukunft paßte. Im Gegenteil, man braucht nicht Prophet zu sein, um eine Mode der Kunst in der Zukunft voraussagen zu können. Und in unserer Zeit ist sogar eine qualitative Höchstleistung der Kunst selbstverständlich, weil unsere Zeit frei ist von der in Kunstmodezeiten üblichen modischen Verflachung der Kunst. In Zeiten der Kunstmode beschäftigen sich viele Unberufene mit der Kunst, weil solche Beschäftigung Geld, Ruhm oder angesehene Stellung bringt. Das sind die Mitläufer und Imitatoren, die nur dazu dienen, das Ansehen der Kunst zu verunglimpfen.
Gerade diese selben Modekünstler werden in Zeiten der Mode der Kunstverfolgung am meisten gegen die Kunst eifern, denn sie gehen immer mit der bequemen Mode und können so am ersten etwas für sich erreichen. Aber die Kunst ist nicht an den Berufskünstler gebunden, denn es gibt einen solchen Beruf in diesem Sinne nicht. Und so kann es kommen, daß die Kunst neben den beruflich arbeitenden Nichtkönnem liegt, wo sie niemand vermutet von der Gemeinde der Snobs, etwa im Spiel des Kindes oder im Handwerk. Die Kunst ist eben eine eigentümliche Blume, die keinerlei Bindung verträgt. Sie ist überall da zu finden, wo ein kräftiges Wachsen aus einem Gesetz und ein richtiges Werten der Teile gegeneinander, die ein Ganzes bilden wollen, vorhanden ist.
In unserer Zeit ist wohl ein Ende der vergangenen Kunstmode festzustellen. Es gibt dafür viele sichere Zeichen, zum Beispiel, daß viele Berufskünstler von der Kunst lassen, daß sich der zur Lächerlichkeit macht, der den Künstlerberuf in der Kleidung zur Schau trägt, daß das allgemeine Interesse an der Kunst ganz erheblich nachgelassen hat. Statt dessen ist das allgemeine Interesse an Sport und Technik sehr gewachsen. Aber das bedeutet nichts gegen die Notwendigkeit und Lebensfähigkeit der Kunst. Und für das gesunde Gedeihen des künstlerischen Schaffens und gegen das Überwuchern des Unkrauts ist es der glücklichste Zustand. Zwar wird es dem Künstler schwer gemacht, sich durch künstlerische Tätigkeit zu ernähren, aber das hat ein Künstler nie fertig gebracht, auch zu Zeiten der Kunstmode. Denn der Käufer ging auch damals mit großer Geschicklichkeit an dem Künstler und an dem Kunstwerk vorbei. Tatsache ist, daß viele Berufskünstler jetzt andere Berufe haben, nur darf man aus dieser Tatsache nicht folgern, daß sich die künstlerische Tat an sich überlebt habe. Denn selbst da, wo sich die künstlerische Tat etwa in Handwerk oder Industrie als Gestaltung äußert, ist sie doch lebendig, und sogar viel lebendiger, als in dem Werk des Mode. Künstlers, der etwa nicht gestalten kann. So rettet sich vielfach jetzt die Kunst in Handwerk. Industrie, Spiel des Kindes, ohne daß sie dadurch unfrei würde, etwa indem sie ein Ding gestaltet, das einen anderen Zweck hat. Denn auch hier ist die Art der Gestaltung zwecklos, wie beim Staffeleibilde, sie hat, vom Standpunkt des industriellen Gegenstandes aus betrachtet, keinen Zweck. Ansichten wie die, daß die industriell einfachste, also beste Lösung gleichzeitig die künstlerisch einfachste, also beste Lösung wäre, lehne ich als falsch ab. Die künstlerische Gestaltung ist letzten Endes funktionell zwecklos. Kunst ist immer zwecklos, Selbstzweck. Die Menge aber, die das gute und schöne Auto bewundert, sieht hier nicht das, worauf es für die gute Gestaltung ankommt, sie sieht im günstigsten Falle das Modische, und es ist heute Mode geworden, trotz größter technischer Sachlichkeit einen industriellen Gegenstand auch künstlerisch zu gestalten. Aber das Publikum sah ja auch bei einem Leibl nicht die künstlerische Gestaltung.
Ich soll hier sagen, was ich von der Zukunft der Kunst hielte. Sie wissen mein Urteil schon. Sie wird stets in gleicher Frische leben, weil sie das Resultat eines prozentual gleichmäßig vorkommenden Triebes ist. Und dieser Trieb ist nicht auszurotten, weil jene Art verfeinerter, sensibler und degenerierter Menschen nicht ausstirbt. In welcher Form sich aber dieser Trieb äußern wird, ist nicht vorauszusagen, nur wird er sich sicher anders äußern, als man vorher vermutet. Denn Kunst ist stets ein Geschaffenes, und man kann nicht immer wieder dasselbe schaffen. Und andererseits braucht ein durchaus richtiges Ding, wie es der Ingenieur oder der Architekt schafft, nicht unbedingt Kunst zu sein, weil der Zweck nicht der der Kunst ist, nämlich: rhythmische Gestaltung.
Ob nun die Kunst im sozialen Staate noch Zweck hätte? Sie kennen meine Antwort schon. Für die Kunst ist es ganz gleichgültig, welche Form der Staat hat, denn sie ist das Resultat eines Triebes. Ob nun der soziale Staat die Kunst besonders pflegt oder vernachlässigt, das kann ich als Künstler nicht wissen. Jedenfalls ist es keine besondere Kunstpflege, wenn etwa Bilder und Filme im sozialen Staate sozialen Inhalt bekommen, wie auch der national bürgerliche Inhalt ehemaliger Bilder nicht Kunstpflege war. Einen das Soziale fördernden Zweck kann die Kunst nie haben, da sie sich ihrem Wesen nach nur um die Gestaltung kümmert. Aber man darf deshalb nun nicht den allgemein menschlichen Wert der Kunst auch im sozialen Staate unterschätzen. Denn gerade die Beschäftigung mit den Dingen. die nicht direkt notwendig sind für die wichtigsten Erfordernisse des Lebens, macht den Menschen frei von den kleinen Dingen des Alltags, erhebt den Menschen über sich selbst und seine Leidenschaften. Das künstlerische Werten. das in Beziehungsetzen der Werte eines Kunstwerkes, das zunächst zwecklos erscheint, das Schaffen von Rhythmus und das Nachempfinden solcher Tätigkeiten, ist eine Übung und Stärkung für den Geist, die dieser in unserer so nüchternen und auf das Reale gerichteten Zeit so nötig hat, wie der Körper den Sport. Und nicht nur die Athleten, sondern gerade die Schwachen sollten ihren Körper durch Sport stärken; und so sollten gerade die kunstfremdesten Rationalisten ihren Geist durch Beschäftigung mit der zwecklosen Kunst elastisch erhalten.
Quelle:
Kurt Schwitters. 1926.
Zitiert nach Friedhelm Lach (Hg.): Kurt Schwitters. Das literarische Werk. Bde 1 – 5. DuMont Buchverlag Köln 1974 – 1988.
Bd. 5. Köln 1981. S. 236 - 240
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