tim schrieb:
Du hast mich glaub falsch verstanden. Meine Statements sind lediglich Kritik an Neugier ("die Gier nach Neuem") als Motor bei der Erschaffung von Kunstwerken. Bach und Mozart haben sich ausschliesslich der musikalischen Bausteine ihrer Periode bedient, ohne jeglichen narzistischen Innovationsanspruch ("ICH werde der Erneuerer sein!").
Hallo Herr Tim,
ich kenne mich in der Musikgeschichte überhaupt nicht aus, Mozart fand ich schon als Kind vom Sound her scheiße (War nicht die Einleitungsmusik vom "Schulfunk" in den 50er Jahren von ihm?), möchte aber den folgenden Ausschnitt aus dem Buch "Über Musik und zum Computer" von Herbert Brün anführen. Ist da ein Widerspruch zu deinen Ausführungen zu erkennen, und/oder was kann man als Erkenntnis daraus gewinnen?
Gruß, Elektrokamerad
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Wie soll ein Komponist sich also verhalten, wenn er mit viel Mühe und Lust eine Musik komponiert hat, die, wie er hofft, etwas Unerhörtes, Neues, Informatives, kurz: viele Störungen des schon Selbstverständlichen vermittelt und nun die Bestätigung seiner Leistung in Form eines empörten Vorwurfs erfährt? Wie soll zwischen beabsichtigter Störung und erlittener Störung die Anpassung gefunden werden? Es sei nun ein Aspekt des Problems vorgeführt, der zeigen soll, daß die Behauptung, der Hörer habe sich anzupassen, keiner Unverschämtheit des Komponisten das Wort redet, sondern dem Wesen des Problems entspringt.
Würde der Komponist seine Absicht, zu stören, aufgeben, so gelänge ihm nur noch bedeutungslose Musik, das heißt, die Anpassung fände statt, bevor ein störendes Geschehen dafür sorgen konnte, die Kommunikationskette zwischen Hörer und Komponisten beiden, sei es auch als gestörte, ins Bewußtsein zu bringen. Fehlt aber das Bewußtsein von einer musikalischen Kommunikationskette, so gibt es keinen Grund mehr, der vorhandenen Musik irgendwelche weitere oder andere hinzuzufügen Der Beruf des Komponisten würde in solchen Fällen in Ermangelung wahrnehmbarer Berufung eingehen.
Für den Hörer sieht es interessanter aus. Gelingt es ihm, dem Störenden den Stachel dadurch zu nehmen, daß er die Störung als überwindbar durchschaut, so nur deshalb, weil er begreift, daß zeitgenössische Kunst eben nicht aus gestörten Mitteilungen, sondern aus mitteilsamen Störungen bestehen muß. Er kann die Störung als Mitteilung empfangen. Das bedeutet Anpassung, nachdem etwas die Kommunikationskette zwischen Hörer und Komponisten, und sei es auch als gestörte, beiden ins Bewußtsein gebracht hat.
Der Komponist hat nur die Wahl, ob er Komponist sein will oder etwas anderes. Der Hörer kann sich aussuchen, ob oder was er hören will. Er bleibt Hörer, ob er sich dem Nichtgeschehen oder dem Geschehen anpaßt. Der Komponist kann sich nicht anpassen, ohne seine Existenz als Komponist zu opfern, und statt dessen ein tonsetzender Arrangeur zu werden. Er muß, koste es was es wolle, seine Mitteilungsabsicht solchen musikalischen Vorgängen anvertrauen, deren Störungseinfluß bis dahin von möglichst wenig Anpassungsmethoden vermindert wurde. Solche musikalischen Vorgänge sind schwer zu erfinden und schwer zu kombinieren. Darin liegt die Arbeit des Komponierens, wenn es dem Komponisten um eine musikalische Mitteilung geht. Häufig sagen solche professionellen Hörer, die einen guten Komponisten nicht von einem schlechten unterscheiden können, beiden nach, daß sie versucht hätten, um jeden Preis neu zu sein. Offenbar haben beide Werke nicht dem Anpassungsvermögen der Nachsager entsprochen. Tatsächlich versucht ein guter Komponist, eine Musik zu schreiben, die um jeden Preis da ist, und sei der Preis auch der Verzicht auf alles, was, auch von ihm geliebt, schon da war. Was neu gefunden wird, ist oft der Preis, um den es überhaupt gefunden werden kann.
Vor bald 200 Jahren schrieb Mozart an seinen Vater einen Geburtstagsbrief:
„Allerliebster Papa!
Ich kann nicht poetisch schreiben; ich bin kein Dichter. Ich kann die Redensarten nicht so künstlich einteilen, daß sie Schatten und Licht geben; ich bin kein Maler. Ich kann sogar durch Deuten und durch Pantomime meine Gesinnungen und Gedanken nicht ausdrücken; ich bin kein Tänzer. Ich kann es aber durch Töne; ich bin ein Musikus... Nun muß ich mit einer musikalischen Gratulation schließen. Ich wünsch Ihnen, daß Sie so viele Jahre leben möchten, als man Jahre braucht, um gar nichts Neues mehr in der Musik machen zu können.“
So heiter und launig der Brief wohl ist, so schwer dürfte es auch dem gierigsten Ohre sein, darin Schwingen des Genies rauschen zu hören. Der Brief wurde hier zitiert, um zu zeigen, mit welcher Selbstverständlichkeit für Mozart ein Musikus der Mann ist, der Neues in der Musik machen will und kann. Und mit welcher Selbstverständlichkeit Mozart Neues in der Musik erwartet, indem er sie zum Maße der Lebensdauer nimmt, die er seinem Vater wünscht. Derselbe Mozart, auf den sich viele Musikfreunde berufen, die heute in der Musik nichts Neues mehr für möglich und erträglich halten.
Ein brauchbarer Befund, dessen Richtigkeit sorgfältig und geduldig zu prüfen wäre, könnte etwa so lauten: Die wesentlichen Probleme der Verständigung zwischen Hörer und Komponisten sind beabsichtigte und planend durchdachte Störungen einer Kommunikationskette, die bliebe sie ungestört, leerlaufen oder zerreisen würde. Die wesentlichen Probleme der Verständigung verbauen nirgends, auch in der Musik nicht, den Zugang zu beabsichtigten Mitteilungen, sonders sie sind der Zugang selbst. Jede Kultur mißt sich an der Menge und Bedeutung der Probleme der Verständigung, die sie als solche erkennen und lösen konnte. Jede Musik, die ein solches Problem stellt, ermöglicht einen weiteren Akt der Erkenntnis und der Lösung, ermöglicht eine neue und das gegenwärtige Leben betreffenden Verständigung, und somit eine Vermehrung dessen, woran der Gesellschaft es noch allenthalben zu fehlen scheint. Die unwesentlichen Probleme der Verständigung, die mehr privaten und emotionellen, sind lediglich Symptome des Fehlens.
http://www.elektropolis.de/ssb_story_bruen.htm