Bei Pop erwartet man den Ear-Catcher so schnell wie möglich. (…)
Bei klassischer Musik liegt der Genuss in der Entwicklung eines Motivs.
Das liest sich für mich viel zu absolut, als ob allein in der Entwicklung eines Motivs der Genuss zu liegen habe. Ich beharre da ganz sturköpfig individualistisch darauf, dass das, was mir Genuss bereitet, nicht mit dem übereinstimmen
muss, vielleicht auch (je nach Sozialisation & Situation) nicht mit dem übereinstimmen
kann, was der musikwissenschaftlich Gebildete als allgemeinverbindlich genussstiftend erkannt zu haben glaubt.
Wie ich oben schrieb: Ein mich kalt lassendes Motiv wird auch durch eine noch so ausgefeilte Entwicklung für mich nicht erregender.
Bestes Beispiel (für meinen Geschmack) ist vielleicht der erste Satz der Mondscheinsonate von Beethoven. Der entwickelt sich unendlich langsam und das zentrale Motiv besteht aus nur einem einzigen Ton in prägnantem Rhythmus. Aber das Ding ist eines der meist gespielten Werke der Musikgeschichte geworden. Und zu Recht. Es erschließt sich aber nur über die Zeitachse, über das geduldige konzentrierte Zuhören.
Ich verstehe das so, als wolltest Du den Erfolg ausgerechnet dieses Stücks als Beleg für Deine Behauptung heranziehen, dass sich klassische Musik "nur über die Zeitachse, über das geduldige konzentrierte Zuhören" erschliessen würde. Falls dem so sein sollte: nein.
Gerade die "Mondscheinsonate" ist der Inbegriff dessen, was man selbst dann unter "klassischer Klaviermusik" versteht, wenn man sich ansonsten überhaupt nicht mit dieser Musik beschäftigt hat, da dieses Stück durch Einsatz in Film und Werbung so derartig prostituiert als auch popularisiert worden ist, dass es ein einziger "Ear-Catcher" geworden ist (um Deine Worte zu gebrauchen), der unmittelbar nach Beginn wohlig-musikalischen Speichelfluss auslöst, ohne irgendeine Form des geduldig-konzentrierten Zuhörens zu erfordern – und das dadurch zu einer Art musikalischen Beruhigungspille geworden ist, die dem verschreckten Publikum mitleidsvoll als Zugabe gereicht wird, nachdem es sich duldsam durch einen Konzertabend mit als anstrengend erlebter zeitgenössischer Klaviermusik gequält hat.
Gleiches gilt für Bachs wunderbare
Ratswahlkantate BWV 29, die dem nach einem Abend mit allzu "neuer" Orgelmusik verstörten und somit umso dankbareren Publikum verlässlich als Versöhnungsgabe serviert wird.