Ausschnitt aus: Rettbehr Meier – Von "elektroakustischer" und Elektronischer Musik
Dieser technische Fortschritt ändert natürlich gar nichts an den Feststellungen, die in historischer Konsequenz zur E. M. geführt haben. E. M. entsteht nicht einfach durch das Einschalten von elektronischen Apparaten, vielmehr steht dahinter eine historische Entwicklung nebst den radikalen Folgerungen daraus:
1. E. M. ist authentisch: E. M. ist die einzige authentische Musik, da der Komponist das akustische Endergebnis in extrem weitgehender Weise selbst definiert und freigibt. Die interpretierende Musik "klassischer" Werke dagegen ist auf Vermutungen über die akustisch beabsichtigte Ausführung angewiesen, wenn der Komponist nicht zugegen ist. Dies fängt bei Tempo und Dynamik an und endet bei Eingriffen in den Notentext. Selbst wenn der Komponist zugegen ist, kann es durch die Mängel des Orchesterapparates zu anderen als den beabsichtigten Klangereignissen kommen.
2. E. M. ist autonom: E. M. braucht keinen Interpreten, sie kommt vom Klangspeicher über Lautsprecher direkt zum Hörer. Damit ist E. M. also auch autonom, nicht geschmäcklerischen Variationen durch Dirigent, Musikanten usw. unterworfen. Der Komponist der E. M. braucht nicht nach Orchestern suchen, die vielleicht bereit sind, seine Kompositionen zu spielen. Wegen der erkannten Mängel grenzt sich die E. M. radikal gegen die mechanische Instrumentalmusik und gegen die Vokalmusik ab.
3. E. M. braucht die alten Vereinbarungen nicht mehr: Das Fehlen des menschlichen Interpreten ermöglicht es auch, die auf dessen praktische Erfordernis ausgerichteten Vereinbarungen fallen zu lassen. Das alte Koordinatensystem von Harmonik, Melodik und Rhythmik als Orientierungshilfe des Interpreten ist fortan nur noch unnötige Selbstbeschränkung. Es ist sogar möglichst vollständig zu meiden, da man durch die immer vorhandene Trägheit des Geistes ohnehin ungewollt am Gewohnten kleben bleiben wird.
4. E. M. kann den Raum nutzen: Die Bühne bleibt bei E. M. leer, es findet keine Zirkusnummer mehr statt. Daher wird der gesamte Raum als Dimension der Komposition oder der Struktur nutzbar. Es ist Platz für den Raum und die Raumwirkung. Dieser Einfluß auf den Klang kann durch entsprechende mehrkanalige Lautsprecheraufstellung als kompositorisches Mittel genutzt werden. Die Zuhörer müssen nicht nach vorne ausgerichtet sitzen, sie müssen vielleicht überhaupt nicht stillsitzen. Die Bühne bleibt leer, die E. M. verlangt deshalb nach neuen Aufführungsformen.
5. E. M. ist nicht "live": Die E. M. nutzt die neuen technischen Möglichkeiten, um das Primat der Zeit zu durchbrechen. Sie ist genau deshalb nicht Echtzeitkunst. Die bildende Kunst ist die Kunst der drei Raumdimensionen. Die E. M. ist die Kunst der Zeitdimension, sie geschieht nicht in der Zeit, sondern formt mit der Zeit. Man hat Ruhe, die Dinge im Studio zu bereiten und sich entwickeln zu lassen. Dies eröffnet ganz neue Größenordnungen der Komplexität. Die E. M. wird genau deswegen im Studio vorproduziert und über Lautsprecher wiedergegeben. Die traditionelle Musikausübung ist dagegen immer in Echtzeit, abhängig von der Zeit, also "live", der Komplexitätsgrad ist damit sehr beschränkt.
6. E. M. kann den Klang nutzen: Die besondere Eigenschaft der E. M. ist es, den Klang weitestgehend zu formen, ja aus dem Nichts erschaffen zu können, daher wird der Klang gegenüber den traditionellen Strukturelementen gleichwertiges Mittel und sogar hervorgehoben. Es findet auch damit eine gewisse Annäherung an die bildende Kunst statt. Der Klang wird somit zum ersten Mal in der Geschichte zu einer Dimension kompositorischen Schaffens. Dies ist mit mechanischen Instrumenten unmöglich, wohl deshalb spielt Klang in der herkömmlichen Musikausübung eine sehr untergeordnete Rolle, es gibt noch nicht einmal Symbole dafür in der klassischen Notenschrift, Kompositionen wurden und werden ohne weiteres uminstrumentiert. "Im Gegensatz zu allen "mechanischen Musikinstrumenten" ... verfügen die elektronischen Instrumente über eine in keiner Dimensionalität ernsthaft eingeschränkte Klang- oder Geräuschpalette. Ihnen ist der volle Bereich vom realistischen Meeresrauschen und der täuschenden Imitation traditioneller Orchesterinstrumente bis zur stilisierten Sprache und den mit Worten nicht beschreibbaren Klängen einer irrationalen Sphäre zugänglich. Sinnlicher Reiz steht neben äußerster Askese und psychischer Aggressivität" [3].
7. E. M. spricht die gesamten natürlichen Fähigkeiten des Menschen an: Das menschliche Ohr kann wesentlich mehr erfassen, als Instrumentalisten jemals zu spielen im Stande sind und als das herkömmliche System zu bieten hat, wenn nicht jahrelanger Drill diese Gabe endlich ausradiert hat. Die übliche Vorgehensweise mit Musikern verlangt aus praktischen Gründen nach einem simplen System. Die Beschränkung der vorherrschenden Praxis ist insofern unmenschlich, als das sie dem Menschen als Hörer nicht gerecht wird. Diese Erkenntnis ebnet neuen Kompositionssystemen und freier Klangmalerei den Weg. Wo das alte System fehlt - z. B. in der sog. "Neuen Musik" -, muß dem Menschen als Spieler oft per Kopfhörer ein Metrum oder sonstiger Anhaltspunkt vorgegeben werden, der Instrumentalist hängt also am Tropf der Maschine. Dies ist wiederum unmenschlich.
Das wäre in sieben Artikeln eine aus der Geschichte erwachsene Definition der Elektronischen Musik, die Meyer-Eppler in den wesentlichen Zügen schon seit 1949 vehement vertreten hat. (Nebenbei: haben Sie schon bemerkt, daß Meyer-Epplers Initialen umgedreht E. M. ergeben?) Da hier einmal grundlegend nachgedacht wurde, haben die Überlegungen und deren Resultate immer noch Bestand. Es gibt also keinerlei innermusikalisches Motiv, hier grundsätzlich zu ändern. Die außermusikalischen Motive untersuche ich weiter unten.
Quelle:
https://www.zem.de/hefte/25.html#von
Also würde künstlich generierte Musik (Suni oä) noch wesentlich mehr den Tatbestand „Elektronischer Musik“ erfüllen, als ein Stockhausen das je hätte tun können.
Und da wir schon dabei sind:
Frage:
Stelle den Diskurs zur Begriffsdefinition elektronischer Musik dar, sowohl in den Anfängen als auch wie sich dieser Diskurs bis heute gewandelt hat. Und würde nach ursprünglicher Auslegung nicht sogar KI-generierte Musik, die mit einem LLM erstellt wurde, eher dem Begriff elektronischer Musik entsprechen, als dies z.B. ein Stockhausen tun würde?
ChatGPT:
Das ist eine sehr spannende Frage – sowohl historisch als auch begrifflich-philosophisch. Ich teile die Antwort in drei Teile:
1. Der Diskurs zur Begriffsdefinition „elektronische Musik“ in den Anfängen
Die Ursprünge elektronischer Musik reichen ins frühe 20. Jahrhundert zurück, mit ersten Experimenten wie dem Theremin (1919) oder den Trautonium-Klangversuchen. Doch der Begriff „elektronische Musik“ wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg klarer umrissen, vor allem im Kontext der Studios in Köln und Paris:
• In Köln, unter Leitung von Herbert Eimert und später Karlheinz Stockhausen, entstand die „elektronische Musik“ im engeren Sinne: Musik, die aus rein elektronisch generierten Klängen besteht (Sinustöne, Impulse, Rauschen), die im Studio synthetisch produziert und bearbeitet wurden. Sie war streng konstruktivistisch, mit einem fast wissenschaftlichen Anspruch.
• In Paris hingegen sprach man von „musique concrète“ (Pierre Schaeffer): Hier wurden reale Klänge (z. B. Geräusche, Aufnahmen von Natur oder Maschinen) aufgenommen, bearbeitet und in neue Zusammenhänge gestellt. Auch das galt als „elektronische Musik“, obwohl der Ursprung nicht synthetisch war.
Damals war der Diskurs stark geprägt vom Medium (elektronisch erzeugt vs. elektronisch verarbeitet) und von der Ideologie: Die elektronische Musik der 1950er strebte nach Kontrolle, Abstraktion, Objektivität.
2. Wandel des Diskurses bis heute
Heute ist „elektronische Musik“ ein extrem weiter Begriff, der nicht mehr nur auf akademische Kompositionen zutrifft, sondern auch auf ganze Populärkultur-Genres:
• Techno, Ambient, IDM, EDM, Glitch, Noise – all das zählt heute als „elektronische Musik“. Dabei geht es oft weniger um den reinen Klangursprung, sondern um die Nutzung elektronischer Mittel zur Produktion, Komposition oder Aufführung.
• Der Fokus hat sich verschoben: von elektronischer Klangerzeugung hin zu elektronischer Produktionsweise und ästhetischem Ergebnis.
• Auch die Rolle des Künstlers ist fluider geworden. Im Zeitalter von DAWs, Algorithmen, Modularsynths oder eben auch KI-gestützten Tools stellt sich die Frage: Was ist noch „Komposition“, was ist „generieren“?
3. KI-generierte Musik als „elektronische Musik“ im ursprünglichen Sinn?
Das ist ein reizvoller Gedanke – und in gewisser Weise ja, KI-Musik könnte „elektronischer“ sein als Stockhausen, wenn man sich am Ursprung des Begriffs orientiert:
• Die ursprüngliche „elektronische Musik“ wollte vollständig synthetisch erzeugte Klangwelten schaffen, losgelöst von menschlicher Performanz, von Instrumenten und von Naturklängen.
• KI-generierte Musik, etwa durch LLMs, folgt genau dieser Idee: Musik, die aus „nichts“ entsteht – aus Daten, Wahrscheinlichkeiten, Code. Sie ist nicht interpretiert, nicht eingespielt, sondern rechenbasiert konstruiert.
• Auch Stockhausen benutzte Maschinen – aber er komponierte bewusst, traf ästhetische Entscheidungen, experimentierte mit Zufall, aber nicht mit selbständigen generativen Systemen. Seine Musik war kontrolliert, während KI-Musik oft auf unvorhersehbaren emergenten Strukturen basiert – ein Paradigmenwechsel.
Fazit
Der Begriff „elektronische Musik“ hat sich von einer engen, medientechnischen Definition hin zu einer kulturell offenen Bezeichnung für Musik mit elektronischen Mitteln gewandelt. In diesem erweiterten Rahmen ist KI-generierte Musik nicht nur ein neuer Zweig, sondern könnte – in einem gewissen Sinne – als die radikalste Form elektronischer Musik gelten: Musik, die nicht nur elektronisch erzeugt, sondern elektronisch „gedacht“ ist.
Wenn du willst, kann ich den Gedanken auch in essayartiger Form oder mit Zitaten aus der Musiktheorie/Literatur ausarbeiten.
-ascii glitches wurden für die Authentizität belassen-