Re: Was berührt euch?
Also das erste Kriterium: Was bedeutet es, daß die Wahrnehmungskategorien Klangfarben, Melodie und Harmonie, Dauern (also Rhythmik und Metrik), formale Einteilungen nicht einfach unvermittelte Kategorien sind, sondern daß man unter Umständen von einer Kategorie in die andere kontinuierlich übergehen könnte? Erstes Thema ist, hatte ich gesagt, Komposition im Zeitkontinuum. Im gebe Ihnen ein paar elementare Beispiele.
Wenn ich hier auf das Pult klopfe und das aufnehme mit einem Magnetophon, eine Tonbandschleife daraus mache, und das jetzt tausendfach beschleunige, dann kriege ich einen Klang, der eine bestimmte Tonhöhe hat, und die Tonhöhe wäre definiert durch den Abstand zwischen den lautesten Akzenten der Perioden. Wenn das genau eine Sekunde wäre, also ti, ta, ta. , . habe ich geklopft, und ich daraus eine Tausendstelsekunde machte, dann würde ich einen Ton hören, der tausend Schwingungen pro Sekunde hat, also eine konstante Tonhöhe aufgrund der Wiederholungen dieser Periode.
Außerdem aber hat die ja auch irgendeine >Klangfarbe<. Im Moment klingt es so »wie Holz«, sagen wir, und das ist alles, was wir zur Bezeichnung dieses Klanges zunächst sagen können. Das ist natürlich ziemlich primitiv: „wie Holz“, oder „als wenn ich mit dem Finger auf das Pult klopfe" . So müssen wir die Klangfarbe beschreiben. Aber nach der Beschleunigung wird sich bei diesem Ton, der wie ein dreigestrichenes C klingt (nämlich tausend Perioden pro Sekunde), ja auch irgendeine Farbe ergeben. Die Farbe wird dann aus diesen Komponenten entstehen, die dieses Holz hier zunächst einmal gehabt hat, und aus den Unterteilungen der Periode. Ich habe ja nicht nur einfach gemacht:
tam - tam - tam, sondern ti, tata, ti, tata. Ich könnte auch einen anderen Rhythmus klopfen. Gäbe der etwas anderes? Ja. Da müssen wir also untersuchen, was das andere eigentlich ist. Was im sagen will: wir haben etwas, was als Rhythmus gehört wurde (also sich offenbar innerhalb von Dauernproportionen abspielte, die wir einzeln wahrnehmen und vergleichen können), umgewandelt in eine andere Wahrnehmung musikalischer Zeit, die wir als Tonhöhe oder als Klangfarbe bezeichnen.
Wenn ich jetzt zwischen diesen Akzenten einen Abstand machen würde, der, sagen wir, von Schlag zu Schlag zwei bis drei Minuten dauerte, dann würden wir das nicht mehr als einen Rhythmus hören, sondern einfach als eine grobe Einteilung von Zeit. Wenn dazwischen nichts passiert, dann wäre das die Musik, dann wären diese drei Schläge in sechs Minuten die Musik. Und wir hätten also drei Abschnitte gehabt in der Musik, nämlich: es geschah was, dann war wieder was, und dann war wieder was, und die Ereignisse waren sich ziemlich ähnlich. Zwei Abschnitte sogar nur. Was danach kam, das hat überhaupt nicht aufgehört, oder ich bin weggegangen, oder jemand hat angefangen zu applaudieren oder zu buhen, und dann war es zu Ende. Und dann fing was anderes an.
Also solch eine >Dauer< ist eine formale Dauer, die wir in engerem Sinne der Musik als Formsektion bezeichnen.
So hätten wir also unter Umständen ein Kontinuum zur Verfügung, und das ist erst mit den neuen Apparaturen zu erreichen, in dem wir kontinuierlich von einem Bereich in den anderen übergehen können: ein Kontinuum, dessen drei Bereiche FORM, was wir formale Einteilung nennen, dann RHYTHMIK und METRIK, dann HARMONIK und MELODIK als ungefähr gleich große Bereiche der Wahrnehmung sind. Das ist sehr interessant. Tonhöhen hören wir von ungefähr 20 Hertz bis 4000 Hertz, das sind, wie Sie wissen, auf dem Klavier ca. 7 1/2 Oktaven. Und es ist interessant, daß die Dauern, die wir wahrnehmen, als rhythmische Werte von ca. 1/8 Sekunde bis 8 Sekunden lang sind.
Man sagt, daß etwas, was länger als 8 Sekunden dauert, als rhythmischer Wert nicht mehr genau unterschieden werden kann; da setzt unsere Wahrnehmung wieder aus, sie wird unscharf. Man verwechselt auf einmal Werte, man kann sich nicht mehr erinnern, ob die 11 oder 13 Sekunden gedauert haben. Unser Erinnerungsvermögen läßt also bei Ereignissen ab 8 Sekunden Dauer nach. Dort fängt wieder ein neuer Bereich der Wahrnehmung an, in dem man die formalen Einteilungen unterscheidet. Und der ist auch wieder ca. 7 Oktaven, das heißt siebenmal das Doppelte ( das ist ja 1 >Oktave< ) breit. Er reicht bis zu der Dauer, die man so üblicherweise in der traditionellen Musik für einen Satz eines Werkes bzw. für ein ganzes Werk gebraucht hat, sagen wir bis zu einer Viertelstunde. Wenn Sie das einmal mitrechnen: 8- 16- 32- 64- 128- 256 512 - 1024 Sekunden (siebenmal das Doppelte) ergibt 17 Minuten. Das ist ungefähr die Dauer, nach der bisher in der traditionellen Musik ein Werk aufhört. Warum dauert es nicht sieben Stunden? Weil wir in unserer Tradition ganz bestimmte Wahrnehmungsbereiche ausgebildet haben, innerhalb derer sich Musik abspielt.
http://www.elektropolis.de/ssb_story_stockhausen.htm