Guten Abend! Seien Sie zunächst bedankt fürs Kommen.
Vielleicht sind nur drei oder vier unter Ihnen, die praktisch mit der Herstellung Elektronischer Musik zu tun haben werden. Dennoch glaube ich, daß zwischen Herstellung und Wahrnehmung heute sehr viel weniger Abstand besteht, als das in früherer Musik der Fall war.
Das erste Kriterium nenne ich
Die Komposition im musikalischen Zeitkontinuum, das zweite Kriterium
Die Dekomposition des Klanges, das dritte Kriterium
Die Komposition mehrschichtiger Räumlichkeit und das vierte Kriterium
Die Gleichberechtigung von Ton und Geräusch.
Diese etwas fachlich klingenden Titel werden sich gleich als allgemeingültiger erweisen, wenn ich Ihnen Beispiele dafür gebe. Und ich bitte Sie, ohne weiteres zwischendurch zu fragen, falls etwas unklar bleibt. Wir haben in der Musik der Vergangenheit vorausgesetzt, daß - entsprechend der historischen Entwicklung der einzelnen Charakteristika des Tons - Tonhöhe, Dauer, Lautstärke, Klangfarbe und Richtung und Geschwindigkeit eines Tones im Raum - verschiedene Kategorien sind, die durch unsere Wahrnehmung bestimmt werden, und daß sich daran nichts ändern ließe. Historisch sind ja im Verlauf von nun fast tausend Jahren diese verschiedenen Charakteristika des Tons nacheinander entwickelt worden. Das vergißt man viel zu schnell. Die Tonhöhen sind am meisten entwickelt. Wir haben heute eine automatische Tonhöhenmessung: wenn Sie ein Klavier benutzen, dann sind die Tonhöhen schon vorher gemessen. Da brauchen Sie nur noch Tasten anzuschlagen. Dasselbe trifft auch weitgehend zu für geblasene Töne und gestrichene Töne. Selbst wenn da kleine Abweichungen sind, richtet man sich nach festgelegten Skalen von ca. 88 Tonhöhen, die der Komposition gedient haben.
Die Dauern sind schon sehr viel weniger entwickelt. Ihre Entwicklung hat auch viel später eingesetzt, als man anfing, die Zeitdauer der Töne genau zu messen.
Das wurde auch erst notwendig, als man begann, Töne genau übereinander zu setzen und nicht nur nebeneinander. In einer Melodie kann sich der rhythmische Fluß ruhig verschieben, und man braucht nicht so genau nach der Uhr zu messen. Aber sobald etwas genau zusammenfallen soll, muß man Werte vorschreiben, die gemessen und die auch nachprüfbar sind. Also wurde die genauere Notation - und damit auch die Komposition - der Zeitdauern etwa zwei- bis dreihundert Jahre später begonnen.
Wieder zwei- bis dreihundert Jahre später begann man zum ersten Mal, Lautstärkewerte strukturell zu komponieren, also nicht nur terrassenförmig, sondern mit Crescendi, mit Decrescendi. Sie wissen vielleicht nicht, daß es mehrfach Riesenkrach in Mannheim gegeben hat, als die ersten Crescendi in der Musik auftauchten und die Leute wirklich im wörtlichen Sinn von den Stühlen hochgegangen sind und protestierten.
Solche Erweiterungen der musikalischen Charakteristika sind für die Wahrnehmung manchmal so eingreifend, als ob sie etwas mit Veränderungen der Verhältnisse, wie man heute sagen würde, zu tun hätten. In Wirklichkeit sind sie nichts anderes als einfache Erweiterungen der Gestaltungsbereiche.
Dasselbe trifft für die Klangfarben zu, die noch bis Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts unemanzipiert komponiert wurden, das heißt, sie dienten einfach zur Klärung von Verhältnissen, die sowieso schon geschaffen waren in Harmonik und Melodik. Selbst die Rhythmik diente im wesentlichen der Klärung der harmonischen Verhältnisse. Das wissen wir aus der ganzen Synkopentheorie. Schönbergs Konzeption, daß man mit Klangfarben genauso Musik machen könnte wie vorher mit Veränderungen der Tonhöhen, ist ja bis heute noch nicht ins Bewußtsein der meisten Musiker gedrungen; daß man zum Beispiel ein Stück machen könnte, in dem die Tonhöhe völlig konstant ist, für eine halbe Stunde, und dieselbe Information musikalisch komponiert und wahrgenommen sein könnte - nur durch Veränderungen der Klangfarben -, wie früher in einer melodischen Komposition. Wenn jetzt eine Systematik für die Ordnung der Klangfarben einsetzte ähnlich wie für die Intervalle, so daß wir auch Intervalle der Farbigkeit komponieren und wahrnehmen könnten, mit denen wir genauso sinnvoll Musik machten, indem wir die Tonhöhen einfach einmal neutralisierten, so hätten wir eine Gleichberechtigung von Tonhöhen- und Klangfarbenkomposition erreicht. Das nur in Klammern.
Seit der Mitte des Jahrhunderts findet dann allmählich eine Emanzipation der räumlichen Bewegung statt, indem also auch der Punkt, an dem in einem gegebenen Raum, im Freien oder im Saal, ein Ton erklingt, und die Richtung, aus der im ihn höre, genauso maßgebend sein könnten, wie (in der übertragenen Vertikale der Tonhöhen) Töne verschieden hoch klingen können. Das ist ganz neu und wird in größerem historischem Abstand einmal als eine Revolution bezeichnet werden, vergleichbar der revolutionierenden Emanzipation der Dynamik oder der Klangfarben. Richtung und Geschwindigkeit eines Klanges in einem gegebenen Raum könnten also genauso relevant werden, wie die Frequenz eines Tones.
Also das erste Kriterium: Was bedeutet es, daß die Wahrnehmungskategorien Klangfarben, Melodie und Harmonie, Dauern (also Rhythmik und Metrik), formale Einteilungen nicht einfach unvermittelte Kategorien sind, sondern daß man unter Umständen von einer Kategorie in die andere kontinuierlich übergehen könnte? Erstes Thema ist, hatte ich gesagt, Komposition im Zeitkontinuum. Im gebe Ihnen ein paar elementare Beispiele.
Wenn ich hier auf das Pult klopfe und das aufnehme mit einem Magnetophon, eine Tonbandschleife daraus mache, und das jetzt tausendfach beschleunige, dann kriege ich einen Klang, der eine bestimmte Tonhöhe hat, und die Tonhöhe wäre definiert durch den Abstand zwischen den lautesten Akzenten der Perioden. Wenn das genau eine Sekunde wäre, also ti, ta, ta. , . habe ich geklopft, und ich daraus eine Tausendstelsekunde machte, dann würde ich einen Ton hören, der tausend Schwingungen pro Sekunde hat, also eine konstante Tonhöhe aufgrund der Wiederholungen dieser Periode.
Außerdem aber hat die ja auch irgendeine >Klangfarbe<. Im Moment klingt es so »wie Holz«, sagen wir, und das ist alles, was wir zur Bezeichnung dieses Klanges zunächst sagen können. Das ist natürlich ziemlich primitiv: „wie Holz“, oder „als wenn ich mit dem Finger auf das Pult klopfe" . So müssen wir die Klangfarbe beschreiben. Aber nach der Beschleunigung wird sich bei diesem Ton, der wie ein dreigestrichenes C klingt (nämlich tausend Perioden pro Sekunde), ja auch irgendeine Farbe ergeben. Die Farbe wird dann aus diesen Komponenten entstehen, die dieses Holz hier zunächst einmal gehabt hat, und aus den Unterteilungen der Periode. Ich habe ja nicht nur einfach gemacht:
tam - tam - tam, sondern ti, tata, ti, tata. Ich könnte auch einen anderen Rhythmus klopfen. Gäbe der etwas anderes? Ja. Da müssen wir also untersuchen, was das andere eigentlich ist. Was im sagen will: wir haben etwas, was als Rhythmus gehört wurde (also sich offenbar innerhalb von Dauernproportionen abspielte, die wir einzeln wahrnehmen und vergleichen können), umgewandelt in eine andere Wahrnehmung musikalischer Zeit, die wir als Tonhöhe oder als Klangfarbe bezeichnen.
Wenn ich jetzt zwischen diesen Akzenten einen Abstand machen würde, der, sagen wir, von Schlag zu Schlag zwei bis drei Minuten dauerte, dann würden wir das nicht mehr als einen Rhythmus hören, sondern einfach als eine grobe Einteilung von Zeit. Wenn dazwischen nichts passiert, dann wäre das die Musik, dann wären diese drei Schläge in sechs Minuten die Musik. Und wir hätten also drei Abschnitte gehabt in der Musik, nämlich: es geschah was, dann war wieder was, und dann war wieder was, und die Ereignisse waren sich ziemlich ähnlich. Zwei Abschnitte sogar nur. Was danach kam, das hat überhaupt nicht aufgehört, oder ich bin weggegangen, oder jemand hat angefangen zu applaudieren oder zu buhen, und dann war es zu Ende. Und dann fing was anderes an.
Also solch eine >Dauer< ist eine formale Dauer, die wir in engerem Sinne der Musik als Formsektion bezeichnen.
So hätten wir also unter Umständen ein Kontinuum zur Verfügung, und das ist erst mit den neuen Apparaturen zu erreichen, in dem wir kontinuierlich von einem Bereich in den anderen übergehen können: ein Kontinuum, dessen drei Bereiche FORM, was wir formale Einteilung nennen, dann RHYTHMIK und METRIK, dann HARMONIK und MELODIK als ungefähr gleich große Bereiche der Wahrnehmung sind. Das ist sehr interessant. Tonhöhen hören wir von ungefähr 20 Hertz bis 4000 Hertz, das sind, wie Sie wissen, auf dem Klavier ca. 7 1/2 Oktaven. Und es ist interessant, daß die Dauern, die wir wahrnehmen, als rhythmische Werte von ca. 1/8 Sekunde bis 8 Sekunden lang sind.
Man sagt, daß etwas, was länger als 8 Sekunden dauert, als rhythmischer Wert nicht mehr genau unterschieden werden kann; da setzt unsere Wahrnehmung wieder aus, sie wird unscharf. Man verwechselt auf einmal Werte, man kann sich nicht mehr erinnern, ob die 11 oder 13 Sekunden gedauert haben. Unser Erinnerungsvermögen läßt also bei Ereignissen ab 8 Sekunden Dauer nach. Dort fängt wieder ein neuer Bereich der Wahrnehmung an, in dem man die formalen Einteilungen unterscheidet. Und der ist auch wieder ca. 7 Oktaven, das heißt siebenmal das Doppelte ( das ist ja 1 >Oktave< ) breit. Er reicht bis zu der Dauer, die man so üblicherweise in der traditionellen Musik für einen Satz eines Werkes bzw. für ein ganzes Werk gebraucht hat, sagen wir bis zu einer Viertelstunde. Wenn Sie das einmal mitrechnen: 8- 16- 32- 64- 128- 256 512 - 1024 Sekunden (siebenmal das Doppelte) ergibt 17 Minuten. Das ist ungefähr die Dauer, nach der bisher in der traditionellen Musik ein Werk aufhört. Warum dauert es nicht sieben Stunden? Weil wir in unserer Tradition ganz bestimmte Wahrnehmungsbereiche ausgebildet haben, innerhalb derer sich Musik abspielt.
Wenn ich jetzt das erste Beispiel spiele, dann soll es demonstrieren, was in der Elektronischen Musik erst bewußt und praktisch möglich geworden ist: daß man zum Beispiel eine Melodie in einen Rhythmus, Töne in Rhythmus verwandelt, indem man sie kontinuierlich verlangsamt; oder daß man irgendeine Form, eine Großeinteilung der Zeit, in einen Ton verwandelt, indem man sie beschleunigt.
Man könnte zum Beispiel eine Beethoven-Sinfonie so zusammenstauchen, daß sie nur noch zwei Sekunden dauert. Dann wäre also das Innenleben, das rhythmische Innenleben dieser zwei Sekunden maßgebend für die Klangfarbe dieses Klanges, für den Klang, wie er mir als Einheit erscheint. Er hätte eine Mikrostruktur, die von Beethoven komponiert wäre. Das ergäbe einen neuen Klang. Es gibt zur Zeit technische Schwierigkeiten, eine Transposition in der Zeit zu machen, ohne automatisch auch die Tonhöhen zu transponieren; aber im Prinzip geht das.
Oder man könnte - jetzt umgekehrt - irgendeinen Klang nehmen und so auseinanderdehnen, daß er die große Zeiteinteilung einer Sinfonie erreichte.
Dann hätten wir die mikromusikalischen Eigenschaften, Zeiteigenschaften eines Klanges in die Makrozeit der Form übertragen.
So etwas geschieht dauernd in avancierten Werken Elektronischer Musik.
Daß zum Beispiel jemand eine rhythmische Struktur macht, dann diese rhythmische Struktur staucht, so daß ein einzelner Klang daraus wird, und man mit dem Klang weiter arbeitet. Oder umgekehrt, daß jemand eine rhythmische Struktur macht und die so dehnt, daß man sie nicht mehr als Rhythmus wahrnimmt, sondern daß man die Einzelschwingungen des Klanges dann zu hören beginnt. Die rhythmische Einteilung, die vorher als Rhythmus gehört wurde, wird dann, wenn man sie - sagen wir - 50fach verlangsamt, zu einer irrsinnig langsamen formalen Einteilung mit Crescendi und Decrescendi, und was zwischendurch passiert ist dann insofern wiederum interessant, als man in den Ton hineinhören und die Schwebungen der Töne wahrnehmen kann. Man 'mikroskopiert' musikalisch.
http://www.elektropolis.de/ssb_story_stockhausen.htm
http://www.elektropolis.de/karlheinz/st ... en_cd1.zip
http://www.elektropolis.de/karlheinz/st ... en_cd2.zip
Das sollte man kennen, wenn man sich dem Thema ernsthaft nähern möchte.