Hatten wir sicherlich schon, dennoch hier im Zusammenhang interessant, wie Stockhausen "vordenkt".
In den letzten beiden Abschnitten sieht er eine Perspektive.
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Karlheinz Stockhausen – Texte zur Musik, Band 1
Arbeitsbericht 1952/53: Orientierung
(erschienen in Structure 1958/1, Amsterdam)
Auf die unmittelbare Klangvorstellung kann man sich nicht mehr verlassen.
Die Klangvorstellung ist durch alle Musik bestimmt, die man bisher gehört hat.
Wenn sie weiterhin Gültigkeit hätte, müßte man sich auch weiterhin der klassischen Ordnung fügen. Materialgerecht denken: Übereinstimmung der Formgesetze mit den Bedingungen des Materials. Die Idee der neuen Form läßt sich aber nicht mit den Bedingungen des alten Materials vereinbaren. Also muß man ein neues Material suchen. Dann muß man rein gedankliche Tonkonstruktionen mit neuem Material zu verwirklichen trachten auf die Gefahr hin, zunächst sehr viel mehr negative als positive Ergebnisse zu erzielen. Man wird sehr viele Klangexperimente und die dazu nötigen Studien machen müssen.
Die annehmbaren Ergebnisse werden eine neue Klangvorstellung bilden, auf die man sich bei der Komposition dann wieder stützen kann. Komponieren wird auf lange Sicht gleichzeitig Forschen sein müssen.
Wo kann man sich orientieren? Edgar Varese hat unter anderem das Werk 'Ionisation' geschrieben. Darin gibt es nur Schlaginstrumente.
Melodien und Harmonien im geläufigen Sinne kann es also nicht geben. Aber Schlaginstrumente erzeugen doch auch mehr oder weniger klar erkennbare Tonhöhen, und wenn 6 verschieden hoch gestimmte Trommeln nacheinander angeschlagen werden, so ergibt das auch eine Melodie; und werden sie gleichzeitig angeschlagen, so ergibt das einen Akkord. Warum klingen denn entstechende Trommellharmonien niemals dissonant, auch wenn die Intervalle der Trommeltöne nach Maßgabe der Naturtonreihe seht kompliziert sind? Weil die Trommeltöne und die Töne der meisten Schlaginstrumente überhaupt keine >Obertonreihe<, keine >harmonischen Spektren ( haben, die sich miteinander reiben könnten, wenn sie in, >dissonanten < Intervallen gleichzeitig erklingen; ihre Schwingungsform ist also nicht periodisch, sondern mehr oder weniger unregelmäßig, es sind >Geräusche<.
Diese Musik von Varese muß also mit anderen Ohren gehört werden. Man beobachtet von jetzt ab mit größerer Aufmerksamkeit Schallvorgänge in der Natur: Melodien, Harmonien, Rhythmen des Windes, des Wassers, der Glocken, Hämmer, Autos, Maschinen; Schallereignisse, die in unserer Musik bisher nur eine ganz untergeordnete Funktion hatten und meist illustrativ im Orchesterschlagzeug verwendet wurden. In anderen Musikkulturen spielen sie eine viel wichtigere Rolle.
Das durch Varese ausgelöste Erlebnis wäre unwesentlich, solange derartige Schallereignisse nicht vom Menschen in eine für ihn sinnvolle Ordnung gebracht würden. Was man also bisher unter dem Sammelbegriff >Geräusch< umschrieb, diese unermeßliche Vielfalt an Schallformen, könnte ebensogut wie ein Violinton einer Kornposition als Material dienen, wenn es der Vorstellung des Komponisten und den Bedingungen des Hörens seiner Musik angemessen wäre. Vor allem würde ein solches Klangmaterial viel besser mit den neuen harmonischen und melodischen Vorstellungen vereinbar sein, wobei alle Intervalle gleichwertig behandelt werden könnten und die Hierarchie der Naturtonintervalle in den Klangspektren der bisher üblichen Instrumentaltöne nicht mehr respektiert zu werden brauchte.
Und noch etwas wichtiges fällt an 'Ionisation' auf: da traditionell übliche melodische und harmonische Wendungen von anderen abgelöst werden, die weniger präzise formuliert sind, scheint die rhythmische Ordnung das Wesentliche zu sein. Aber auch diese ist in Formen vorgestellt, die betont von den symmetrischen und vorwiegend geradzahlig-periodischen Taktschemata der bisherigen Musik abweichen.
Wie die Dissonanzen so wirken ganz entsprechend die Synkopen bei den übrigen Komponisten der ersten Jahrhunderthälfte als kompliziertere Verhältnisse im Vergleich zu konsonanten Intervallen und periodischen Rhythmen, auch dann, wenn Dissonanz und Synkope überhaupt nicht mehr >aufgelöst< werden ; denn unvermeidlich dienen nach wie vor die harmonischen Spektren der Instrumentaltöne als Empfindungsmaßstab, und zwei Violintöne, im Verhältnis der großen Septime gleichzeitig gehört, werden immer als eine kompliziertere Verbindung empfunden, als die gleichen Töne im Verhältnis der Oktave, da im Falle der großen Septime mehr verschiedene Teil-Töne und Kombinationstöne gehört werdcn, als im Falle der Oktave, die sehr viele gemeinsame Teil-Töne der beiden harmonischen Spektren ergibt.
Was zur Komposition von Edgar Varese bemerkt wurde, gilt in differenzierterem Maße für einige Kompositionen des Amerikaners John Cage.
Z. B. 'music festival for 2 prepared pianos'. Um bestimmte Klangfarben auszuwählen, die nur diesem Stück zu eigen sein sollen, schreibt Cage vor, was man tun muß, bevor man diese Komposition auf 2 Klavieren spielen kann: bei der Tonhöhe e muß ein Stück Kautschuk zwischen die Klaviersaiten gesteckt werden (das ergibt einen dumpfen, harten Ton, wenn man auf die Tastc schlägt); zwischen den Saiten von C wird eine Metallschraube befestigt; fis wird mit einem Korken gedämpft usw.
So stellt der Komponist die >Klangfarben< für ein Werk zusammen; aber nicht in Form der üblichen Orchestration, wo aus einem allgemein gebräuchlichen Instrumentarium ausgewählt wird; vielmehr komponiert Cage die Klänge eigens für jedes Stück und seine Teile, er >präpariert< sie. Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit, daß immer nur bestimmte Saiten für eine Komposition präpariert werden, und die Tonhöhen dieser Saiten dann immer die gleiche Klangfarbe haben, wenn sie im Verlauf des Spiels angeschlagen werden.
Ferner gelten für einen Abschnitt des Werkes bestimmte präparierte Töne; dann ändert sich die Form und andere präparierte Saiten werden benutzt, das heißt andere melodische und harmonische Formeln und damit ganz andere Klangfarben.
Die Klangfarbe ist also in viel größerem Maße als bisher am Formprozeß beteiligt. Bestimmte Präparationen verlangen eine ganz bestimmte Dauer des Anschlages und Klingenlassens; manche müssen sehr lange klingen, damit sich die präparierte Saite richtig einschwingen kann, und andere sehr hart und trocken präparierte Saiten können sehr rasch nacheinander angeschlagen werden.
Also wird auch die Rhythmik und die Lautstärkeordnung für eine solche Komposition und ihre Teilstrukturen schon allein durch die Präparationen verschieden sein.
Der Komponist macht also bei den gegebenen Instrumenten nicht mehr Halt und verwendet sie nicht als etwas Fertiges, unabhängig von der einzelnen Komposition Vorgeformtes, sondern er beginnt, auch den Klang in die Struktur eines Werkes einzubeziehen, die Klangfarben ihrer physikalischen Natur nach zu kom-ponieren in Hinsicht auf die Funktion, die sie in der Form des geplanten Werkes haben sollen.
Im Werk 'Construction in metal' ist die Präparation der Klangfamilie von anderer Art: Cage hat ein Orchester nur mit Metallinstrumenten zusammengestellt, die er aus allen Erdteilen zusammensuchte; es wird also kein bestehendes Instrument >präpariert<, sondern speziell für dieses Werk ein neuer Klangkörper aus bestehenden Klanggebern zusammengestellt. Durch die Eigenart der Klangfarben-Komposition und der damit korrespondierenden musikalischen Form erhält dieses Stück eine unverwechselbare Einheitlichkeit, eine nur ihm eigene Struktur; es kündigt sich eine Vielfalt von Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Material und Materialformung an, wobei das Kleine mit dem Großen und das Detail mit dem Ganzen innig verbunden sein könnten.
Pierre Schaeffer begann 1948 in Paris, mithilfe elektroakustischer Apparaturen auf Tonband gespeicherte Schallvorgänge zu deformieren, transformieren und zu ungewöhnlichen Schallmontagen zu mischen. Als Ausgangsmaterial dienten immer mit dem Mikrophon aus der Natur aufgenommene Schallvorgänge. Im Prinzip geht es also um das gleiche, was Cage mit seinen Präparationen machte.
Obwohl die Arbeiten in der Gruppe der Mitarbeiter Schaeffers allzu unsystematisch betrieben wurden, um Voraussetzungen für eine 'Musique concrète' zu schaffen, entstanden doch einige kurze Etüden, die mit den differenzierteren Mitteln der Radiotechnik den von Varese und Cage mitbestimmten Weg weiterverfolgten. Darunter befindet sich die zweite Etüde von Pierre Boulez .
Er wählte 6 Klang-Objekte aus; Schallkomplexe, die er mithilfe elektroakustischer Apparaturen aus aufgenommenen Schlagzeuggeräuschen gewonnen und in Hinsicht auf das zu komponierende Stück >präpariert< hat.
Die Zusammenstellung und innere Zusammensetzung des Klangmaterials geht also bereits einen Schritt weiter, als bei den bis dahin bekannten Beispielen ;
die Unterwerfung des Materials unter die ordnende Vorstellung des Komponisten und die Anpassung eines gegebenen Materials an die neuen Forderungen musikalischer Form könnten das Unheil abwehren, daß umgekehrt der Komponist von den Bedingungen des Materials beherrscht würde und aus den Widersprüchen von Material und Kompositionsmethode der ersten Jahrhunderthälfte nicht mehr herausfände.
Prinzipiell geht es überhaupt nicht um die Verwendung ungewohnter, unbedingt neuer Klänge - derart modische Chocs verbrauchen sich sehr schnell-, sondern darum, daß die musikalische Ordnung in die Schwingungsstruktur der Schallvorgänge hinein getrieben wird, daß die Schallereignisse in einer Komposition integraler Bestandteil dieses und nur dieses Stückes sind und aus seinen Baugesetzen hervorgehen: Textur des Materials und Struktur des Werkes sollen eins werden; mikrotonale und makrotonale Form müssen gemäß der Formidee für jedes Werk wieder neu in Übereinstimmung gebracht werden.
Dabei sind die bisherigen Vorstellungen von musikalisch >tauglichen< Schallvorgängen zu revidieren: Jeder überhaupt nur vorstellbare Schall kann, wenn er aus der komponierten Struktur eines Werkes notwendig hervorgeht, musikalisch verwendet werden. Klänge, Geräusche - wie immer sie beschaffen sein mögen - sind zunächst bloßes Material, und nichts veranlaßt dazu, gewisse Schallvorgänge von vorneherein für den musikalischen Prozeß auszuschalten.
Neben diesen Versuchen, Geräusche in die Komposition maßgeblich einzubeziehen und bekanntes Klangmaterial durch Umwandlungsprozesse den neuen kompositorischen Anforderungen gefügig zu machen, gibt es die Kompositionen des Schönbergschülers Anton Webern. Sie sind die besten Beispiele für das geistige Niveau des Komponierens, das innerhalb der rein instrumentalen Musik gebräuchlicher Art erreicht wurde.
Kurz und deutlich zeigt ein Beispiel aus dem Jahre 1910 das jetzt Wesentliche. Das erste der
5 Stücke für Violine und Klavier hat in der Violine 5 Tongruppen: einen langgezogenen Ton, Flageolett gespielt, dann 5 Töne normal gestrichen, dann 2 Töne, 10 mal wiederholt, con legno weich gezogen, und endlich 2 Pizzicato-Töne. Eine Gruppenreihe wird durch die verschiedenen Klangfärbungen eines Instrumentes klar gemacht, und die >Präparation< der Töne bekommt die Funktion, Form zu verdeutlichen.
Keimhaft liegt hier verborgen, was 40 Jahre später so große Bedeutung erlangen sollte.
>Farbe< ist nicht länger ein Gewand, Stuck, Verkleidung, sondern sie ist Form.
Was das bedeutet, kann man ermessen, wenn man bedenkt, daß noch heute die allermeisten Komponisten bei einem Orchesterwerk zuerst die >Noten< womöglich in einer Klavier-fassung schreiben - also die Tonhöhen und Zeitwerte und vielleicht noch einige allgemeine Anmerkungen über die Lautstärke - und daß sie dann zur > Palette< greifen und >instrumentieren<.
Wie sich bei Webern gleichberechtigte Funktion jeder Dimension des Klanglichen in der neuen musikalischen Form anbahnte, so wurde auch der Unterschied von Haupt- und Nebensachen aus der musikalischen Form ausgeschieden: Alles wird Hauptsache, kein Formglied soll über das andere herrschen.
Wenn es auch einstweilen nicht möglich ist, die Textur des Klangmaterials widerspruchslos in die Struktur des Werkes einzubeziehen, muß man doch die neuen Formprinzipien so klar wie möglich herausarbeiten. Also möglichst wenige und ganz übliche Instrumente und von jeder typischen Familie nur eines.
Alle Form soll zunächst vom Punkt, vom einzelnen Ton ausgehen und in ihn münden:
Als Werk Nr. 1 'Kontra-Punkte'. Werkidee: Die 'Kontra-Punkte' für 10 Instrumente sind aus der Vorstellung entstanden, daß in einer vielfältigen Klangwelt mit individuellen Tönen und Zeitverhältnissen die Gegensätze so gelöst werden sollen, daß ein Zustand erreicht wird, in dem nur noch ein Einheitliches, Unverändertes hörbar ist.
Im eigentlichen Sinne kontra-puktiert werden in diesem Werk die Klangdimensionen, auch >Parameter< genannt, und zwar im umschriebenen vierdimensionalen Raum: Längen (Dauern), Höhen (Frequenzen), Volumina (Lautstärken), Schwingungsformen (Klangfarben).
Was in drei durchorganisierten Kompositionen galt, die unmittelbar vor den 'Kontra-Punkten' entstanden sind, wird allmählich überzeugender: Immer das gleiche gesucht und versucht: die Kraft der Verwandlung - ihre Wirkung als Zeit: als Musik. Also keine Wiederholung, keine Variation, keine Durchführung, kein Kontrast. All dies setzt >Gestalten< - Themen, Motive, Objekte voraus, die wiederholt, variiert, durchgeführt, kontrastiert werden; zergliedert, bearbeitct, vergrößert, verkleinert, moduliert, transponiert, gespiegelt oder als Krebs geführt werden. All das ist seit den ersten rein punktuellen Arbeiten aufgegeben worden. Unsere Welt - unsere Sprache - unsere Grammatik.
Kein Neo. . . ! Aber was denn? Kontra-Punkte: eine Reihe verborgenster und sinnfälligster Wandlungen und Erneuerungen - kein Ende abzusehen.
Man hört niemals das gleiche. Doch spürt man deutlich, aus einem unverwechselbaren und äußerst einheitlichen Gefüge nicht herauszufallen. Eine verborgene Kraft, die zusammenhält, verwandte Proportionen: eine Struktur. Nicht gleiche Gestalten in wechselndem Licht. Eher das: verschiedene Gestalten im gleichen Licht, das alles durchdringt.
Wie aber ist die Forderung nach einer Übereinstimmung von Materialstruktur und Werkstruktur zu verwirklichen ? Wie kann man in die mikrotonale Welt des Klanglichen eindringen? Die Instrumentaltöne, alle >natürlichen< Schallvorgänge sind bereits mehr oder weniger komplexe Schwingungsformen, sie sind >von Natur aus< vorgeformt, und darauf müßte man immer Rücksicht nehmen.
Die Schwingungsformen von Instrumentaltönen und verschiedensten Geräuschen werden mit elektro-akustischen Hilfsapparaturen eingehend analysiert: Wenn man den Analyseprozeß zeitlich umkehren, also Schwingungsformen gemäß den analytischen Daten synthetisch herstellen könnte ? Dann müßte es so etwas geben wie einfache Schwingungen, die man zu differenzierteren Schwingungsformen kombinieren könnte. Oder man müßte ein so dichtes Schwingungs->Band< zur Verfügung haben, aus dem man mithilfe von verschiedensten >Filtern< die unterschiedlichsten Schwingungsformen herausfiltern könnte.
In Bonn experimentiert Meyer-Eppler im Bereich der elektronischen Klangerzeugung. Dort und am Westdeutschen Rundfunk, wo Eimert Experimente mit rein elektrisch erzeugten Schallformen macht, wird man vielleicht eine Lösung der kompositorischen Schwierigkeiten finden.