Dass wir meinem Eindruck nach die Ausgangsfrage noch nicht vernünftig beantworten konnten, liegt evt. auch daran, dass man unter »angesagt«, und sogar unter »verkauft sich gut«, sehr verschiedene Dinge verstehen kann. Davon hängt dann wiederum ab, was man als Anschuungsmaterial verwendet, und zu welchem Ergebnis man kommt (auch hinsichtlich der Frage nach der historischen Entwicklung, zu der wir ja mehr oder weniger abgedriftet sind). Drei Facetten würden mir spontan einfallen:
1) »angesagt« im Sinne von reinen Tonträgerverkäufen (und parallel dazu, heute stärker als früher: Umsatz im Live-Geschäft).
Da kann man sich z.B. mal die Charts von '85/95/05/15 vornehmen und einfach mal schauen, wie es denn mit der Angesagtheit elektronischer Musik so über die Zeit hinweg bestellt ist. Ich habe hier noch keine Auswertung vorgenommen; das überlasse ich denen, die es stärker interessiert, und die besser informiert sind (bei mir scheiterts schon daran, dass mir bei 2015 bis auf Major Lazer kein einziger der Interpreten etwas sagt...). Zu bedenken gebe ich aber mindestens, dass das Modell »kommerziell erfolgreiche elektronische Musik 1995« evt. ein anderes ist als das »kommerziell erfolgreiche elektronische Musik 2015«. Die Hanseln, die als Snap, Rednex, und wie sie alle hießen, durch die Hallen und die Bravos hüpften, sind natürlich nicht dieselben Personen wie die Profiteure des Erfolgs (das waren die Produzenten im Hintergrund). Heute hingegen, bei Calvin Harris oder Paul Kalkbrenner, ist das anders. In diesem Modell sind die Rollen ›Produzent‹ und ›Gesicht‹ wieder von derselben Person besetzt.
2) »angesagt« im Sinne von »sozial akzeptiert«. Finde ich persönlich viel interessanter. Hier meine ich ganz klar zu beobachten, dass sich zwischen den Mitt-Neunzigern und heute die Akzeptanz von elektronischer Musik *massiv* verbreitert hat, und zwar sowohl hinsichtlich der sozialen Schichten als auch der Altersgruppen. Mit 16, 17 war ich auf Klassenfahrt in Berlin. Ganz groß angesagt: die »Mayday«. Einige Klassenkameraden brüsteten sich damit, dorthingehen zu wollen. Ich weiß nicht, ob sie's getan haben, ist auch egal, denn alleine für das Bedürfnis danach hatte ich mit meiner Punk/HC-Sozialisation nur Verachtung übrig. Als wahrscheinlich unbewusste Referenz an Frau Schwarzer und ihre Kampagne »PorNO!« stand auf meiner Federmappe »TekkNO!«. Techno, also das damalige Synonym für elektronische Musik, war aus ›unserer‹ Sicht etwas für Leute, die als Abschaum zu bezeichnen noch freundlich war. Daran änderte auch nichts, dass diese Leute mit uns in denselben Lateinstunden saßen und ihre Papas Anwälte und Ärzte waren. Drei Jahre später: man zog aus der westdeutschen Provinz nach -- Berlin. Dort begann man, zunächst hinter vorgehaltener Hand, auch Veranstaltungen mit elektronischer Tanzmusik zu besuchen. Selbstverständlich ausschließlich Drum'n'Bass, welches unter den Technoprolls als ›Intellektuellenmucke‹ verschrien war (was uns sehr entgegen kam). Ach ja, ebenfalls hören durfte man vielleicht noch Aphex Twin, denn der war ja irgendwo der Punk der elektronischen Musik.
Ab da, also im Laufe der Nullerjahre, muss sich die Akzeptanz von (im weitesten Sinne
Techno & Co. rasant erhöht haben. Man konnte problemlos am selben Abend mit seiner Doom-Drone-Band auftreten und danach noch auf die nächste Technoparty. Ricardo Villalobos, Ellen Allien und wie sie alle hießen, waren ohne weiteres studentenkompatibel, und wir konnten uns sogar was darauf einbilden, wie weltoffen und sozial-integrativ Techno doch sei. Vor dem Beat sind alle gleich, usw. Hier begann dann wohl auch der Aufstieg der Figur, die für mich exemplarisch für die heutige Lage steht (wobei ich das Phänomen EDM noch nicht berücksichtigt habe). Paul Kalkbrenner, der einst wirklich ›gute‹ Musik (›Gebrünn Gebrünn‹, 2005) machte -- deren Reichweite aber zunächst beschränkt war auf den üblichen Techno-Kontext -- Paul Kalkbrenner füllt heute Stadien mit Leuten zwischen 12 und 72, oder? Natürlich nicht mehr mit derselben Musik, sondern mit (aber da wären wir dann schon bei einer Teil-Antwort) einer Art Wohlfühl-Techno. Vielleicht nicht im Sinne ›schlechter‹ Musik (da will ich jetzt nicht urteilen), aber: befreit von allem, was einst Ecken und Kanten hatte, provokant war oder irritierend wirkte. Der Anteil der Deutschen, die sich auf Paul Kalkbrenner einigen können, ist mittlerweile so groß, dass man als einigermaßen geschmackvoller Mensch doch sofort den Reflex kriegt: da will ich nicht zugehören. Auch sein Film: ein Erfolg wie ›Berlin Calling‹ wäre undenkbar gewesen Mitte der Neunziger -- ausgerechnet zu der Zeit, als die Love Parade auf dem Zenith war und die Charts voll mit Rednex, Scatman John, Blümchen und Scooter. Zwanzig Jahre später aber:
alle rennen rein, der Ronny aus Rathenow wie die Charlotte aus Wilmersdorf, und ihre Eltern und deren Eltern gleich mit.
3) »angesagt« im Sinne der Musikkritik. Als »angesagt« empfinde ich etwas auch dann, wenn die Feuilletons davon voll sind. Das kann mit angesagt1 und angesagt2 korreliern, muss aber nicht. Derzeit habe ich ganz klar den Eindruck, dass sich in jenen Kreisen kaum jemand für elektronische Musik interessiert. Die letzten großen features in meiner Tageszeitung, an die ich mich aus den letzten Monaten erinnere, galten (unter Auslassung des dominierenden Klassik-Sektors) Leuten wie Boy, Wanda, Kasami Washington, Janet Jackson, Flying Lotus (als quasi-elektronische Ausnahme), und immer wieder, gefühlt alle vier Wochen: Gonzales, Gonzales, Gonzales.
Drei Zugänge, drei verschiedene Ergebnisse. Inwiefern das nun beim Geldverdienen weiterhilft? Keine Ahnung. Ich vertrete die zweckpessimistische Ansicht, dass, wenn man fragt: »auf welchen aktuellen Trend kann ich aufspringen, um damit Geld zu verdienen?«, dass man dann immer schon fünf Jahre zu spät dran ist.
Liebe Grüße & viel Erfolg
Nils