Das war 1932 Kästners Blick in die Zukunft
Vorsicht, Hochspannung! Am Ausgang der Verkehrten Welt trafen sie auf eine Untergrundbahnstation. Sie stiegen treppab, sahen einen Zug stehen und setzten sich hinein. „Eine komische Untergrundbahn“, sagte Konrad. „Hier gibt's keine Schaffner, hier gibt's keinen Zugführer. Ich bin neugierig, wo die Fuhre hingeht.“ „Wir werden's ja erleben“, entgegnete der Onkel. Da aber ruckte der Zug an, setzte sich in Bewegung und sauste, eine Sekunde später, wie ein geölter Blitz in einen betonierten Stollen hinein. Ringelhuth fiel von der Bank und sagte: „Vielleicht werden wir's auch nicht erleben. Lieber Neffe, falls mir etwas Menschliches zustößt, vergiss über deinem Schmerz um mich nicht, dass du meine Apotheke erbst.“ „Und falls du mich überlebst, lieber Onkel“, sagte der Junge, „So gehören dir meine Schulbücher und der Zirkelkasten.“ „Heißen Dank“, erwiderte der Onkel. Und dann schüttelten sich die beiden ergriffen die Hände. „Wir wollen nicht weich werden“, meinte das Pferd und blickte aus dem Fenster. Die Untergrundbahn schoss wie eine Rakete durch den Tunnel. Die Schienen jammerten. Und der Zug zitterte, als hätte er vor sich selbst Angst. Onkel Ringelhuth setzte sich wieder auf die Bank und sagte verzweifelt: „Wenn mir jetzt was passiert, ist's mit dem Nachtdienst in der Apotheke Essig.“ Doch da fiel er schon wieder von der Bank. Denn die Bahn hielt, als hätte man einen Eisberg gerammt. „Nun aber raus!“ schrie der Onkel, krabbelte hoch, riss die Tür auf und stolperte auf den Bahnsteig. Das Pferd und Konrad stürzten hinter Ringelhuth her. Als sie die Treppe hinaufgeklettert waren und sehen konnten, wo sie sich befanden, waren sie zunächst einmal starr. Sie standen zwischen lauter Wolkenkratzern! „Meine Fresse“, sagte schließlich das Pferd. Und Konrad begann, die Stockwerke des nächstliegenden Gebäudes zu zählen. Er brachte es auf sechsundvierzig. Dann musste er aufhören, weil der Rest des Hauses von Wolken umschwebt war. Auf einer dieser Wolken stand in Projektionsschrift: Elektropolis - die automatische Stadt! Vorsicht, Hochspannung! Das Pferd wollte auf der Stelle umkehren und meinte, man solle doch die verflixte Südsee schwimmen lassen. Aber Onkel und Neffe dachten nicht im Traum dran, sondern überquerten den großen Platz, der vor ihnen lag und von Hunderten von Autos befahren war. Und da musste Negro Kaballo wohl oder übel hinterher trotten. „Zu arbeiten scheint hier überhaupt niemand“, meinte Ringelhuth. „Alles fährt im Auto spazieren. Versteht ihr das?“ Konrad, der neugierig neben einem der Wagen hergerannt war, kam zurück und schüttelte den Kopf. „Denkt euch bloß“, sagte er, „die Autos fahren von ganz allein, ohne Chauffeur und ohne Steuerung. Mir ist das völlig schleierhaft.“ Da bremste ein Wagen und hielt neben ihnen. Eine nette alte Dame saß hinten drin. Sie häkelte an einem Filetdeckchen und fragte freundlich: „Sie sind wohl von auswärts?“ „Es reicht“, erwiderte der Onkel. „Können Sie uns erklären, wieso hier die Autos von selbst fahren?“ Die alte Dame lächelte. „Unsre Wagen werden ferngelenkt«“ erzählte sie. „Das Lenkverfahren beruht auf der sinnreichen Koppelung eines elektromagnetischen Feldes mit einer Radiozentrale. Ganz einfach, was?“ „Blödsinnig einfach“, meinte der Onkel. „Einfach blödsinnig“, knurrte das Pferd. Und Konrad rief ärgerlich: „Wo ich doch Chauffeur werden wollte.“ Die alte Dame tat ihr Filetdeckchen beiseite und fragte: „Wozu willst du denn Chauffeur werden?“ „Na, um Geld zu verdienen«, antwortete der Junge. „Wozu willst du denn Geld verdienen?“ fragte die alte Dame. „Sie sind aber komisch“, rief Konrad. „Wer nicht arbeitet, verdient kein Geld. Und wer kein Geld verdient, muss verhungern.“ „Das sind ja reichlich verwitterte Anschauungen“, äußerte die alte Dame. „Mein liebes Kind, hier in Elektropolis arbeitet man nur zu seinem Vergnügen oder um schlank zu bleiben oder um wem ein Geschenk zu machen oder um was zu lernen. Denn das, was wir zum Leben brauchen, wird samt und sonders maschinell hergestellt, und die Bewohner kriegen es gratis.“ Onkel Ringelhuth dachte nach und sagte: „Aber die Lebensmittel muss man doch, ehe sie in Fabriken verarbeitet werden, erst mal pflanzen? Und das Vieh wächst doch auch nicht wie Unkraut in der Gegend.“ „Das erledigen unsre Bauern vor der Stadt“, entgegnete die alte Dame. „Aber auch die haben wenig Pflichtarbeit. Denn auch die Landwirtschaft ist restlos durchmechanisiert; das meiste besorgen die Maschinen.“ „Und die Bauern schenken Ihnen ihr Vieh und ihr Getreide?“ fragte das Pferd. „Die Bauern kriegen für ihre Erzeugnisse alles andre, was sie zum Leben brauchen“, erzählte die alte Dame. „Alle Menschen können alles kriegen. Denn der Boden und die Maschinen produzieren bekanntlich mehr, als wir benötigen. Wussten Sie das noch nicht?“ Onkel Ringelhuth schämte sich ein bisschen. „Natürlich wissen wir das“, meinte er. "Aber bei uns leiden trotzdem die meisten Menschen Not.“ „Das ist doch der Gipfel!“ rief die alte Dame streng. Dann lächelte sie aber wieder und sagte: „So, jetzt fahr ich in unsre künstlichen Gärten. Dort duften die Bäume und Blumen nach Ozon. Das ist sehr gesund. Wiederschaun.“ Sie drückte auf einen Knopf, beugte sich über ein Sprachrohr und rief hinein: „In den künstlichen Park! Ich will in der Gastwirtschaft am Kohlensäurebassin Kaffee trinken!“ Da setzte sich das geheimnisvolle Auto gehorsam in Bewegung und fuhr davon. Die alte Dame lehnte sich bequem zurück und häkelte weiter. Die drei gafften wie die Ölgötzen hinterher. Und der Onkel sagte: „Das ist ja allerhand. Und so schön wird's später auf der ganzen Welt sein: Hoffentlich erlebst du' s noch, mein Junge.“ „Wie im Schlaraffenland“, meinte das Pferd. „Mit einem Unterschied“, warf Ringelhuth ein. „Der wäre?“ fragte das Pferd. „Hier arbeiten die Menschen. Hier sind sie nicht faul. Sie arbeiten allerdings nur zu ihrem Vergnügen. Doch das wollen wir ihnen nicht nachtragen. Na, gehn wir weiter!“ Sie bogen in eine belebte Straße ein, um sich die Schaufenster von Elektropolis zu betrachten. Aber kaum hatten sie den Bürgersteig betreten, so fielen sie alle drei der Länge lang um und rutschten, obwohl sie das gar nicht vorhatten, auf dem Trottoir hin. „Hilfe!“ schrie Konrad. „Der Fußsteig ist lebendig!“ Der Fußsteig war nämlich, damit man nicht zu gehen brauchte, mit einem laufenden Band versehen. Darauf stellte man sich und fuhr, ohne eine Zehe krumm zu machen, durch die Straßen. Wenn man in ein Geschäft wollte, trat man von dem laufenden Band herunter und hatte nun Pflaster unter den Schuhen. „Das hätte uns das häkelnde Großmütterchen ruhig sagen können“, knirschte das Pferd. Es fuhr auf seinem Allerwertesten die Hauptstraße von Elektropolis lang und konnte, wegen der Rollschuhe, nicht aufstehen. Erst als Ringelhuth und Konrad nachhalfen, kam es auf die Beine. Und nun machte ihnen der lebendige Bürgersteig geradezu Spaß. Dann wollte der Onkel in das Schaufenster einer Konditorei gucken und trat von dem laufenden Band herunter. Er hatte aber noch keine Übung und stieß mit dem Schädel gegen eine Hauswand. Daraufhin hörten sie ein merkwürdiges Singen und Klingen, und sie wussten zunächst nicht, woher das kam. Konrad klopfte gegen das Haus, und das Summen wurde noch stärker. Er kratzte an der Wand und rief: „Was sagt ihr dazu? Die Wolkenkratzer sind aus Aluminium!" „Kinder, ist das eine praktische Stadt!“ meinte der Onkel. „Da sollten wir einmal unsern Bürgermeister studienhalber herschicken !“ Am meisten imponierte ihnen aber folgendes: Ein Herr, der vor ihnen auf dem Trottoir lang fuhr, trat plötzlich aufs Pflaster, zog einen Telefonhörer aus der Manteltasche, sprach eine Nummer hinein und rief: „Gertrud, hör mal, ich komme heute eine Stunde später zum Mittagessen. Ich will vorher noch ins Laboratorium. Wiedersehen, Schatz!" Dann steckte er sein Taschentelefon wieder weg, trat aufs laufende Band, las in einem Buch und fuhr seiner Wege. Konrad und dem Pferd standen die Haare zu Berge. Ein paar Leute, die in entgegengesetzter Richtung an ihnen vorbeifuhren, sagten: „Die mit dem Pferd, das sind bestimmt Provinzler." Ringelhuth zuckte die Achseln und versuchte, möglichst einheimisch zu wirken. Dabei fiel er aber wieder um. Doch er sagte, als Konrad ihm hoch helfen wollte: „Lass gut sein, ich fahre im Sitzen weiter.“ Sie rollten aus einer Straße in die andre. Und die Wolkenkratzer aus Aluminium begannen leise zu singen, weil ein Wind aufkam. Nach einer Viertelstunde war das laufende Band zu Ende. Auch Wolkenkratzer gab es keine mehr. Sie mussten wieder zu Fuß gehen, marschierten fleißig und standen wenig später vor einer gewaltigen Fabrik. „Viehverwertungsstelle Elektropolis“, so hieß sie. Konrad rannte als erster durchs Tor. Unabsehbare Viehherden warteten darauf, nutzbringend verarbeitet zu werden. Sie drängten sich muhend und stampfend vor einem ungeheuer großen Saugtrichter, der gut seine zwanzig Meter Durchmesser hatte. Sie drängten einander in den Trichter hinein. Ochsen, Kühe, Kälber - alle verschwanden sie zu Hunderten, geheimnisvoll angezogen, in der metallisch glänzenden Öffnung. „Wozu ermordet der Mensch die armen Tiere?“ fragte das Pferd. „Ja, es ist ein Jammer“, erwiderte der Onkel. „Aber wenn Sie mal ein Schnitzel gegessen hätten, wären Sie nachsichtiger!“ Aber gerade als er das rief, kam ein Mann über den Fabrikhof geschlendert. Er grüßte und sagte: »“Ich habe heute Dienst. Jeden Monat einmal. Zwölf Tage im Jahr. Ich beaufsichtige die Maschinerie“ „Eine Frage, Herr Nachbar“, sagte das Pferd. „Was machen Sie eigentlich an den übrigen dreihundertdreiundfünfzig Tagen des Jahres?“ „Da seien Sie ganz ohne Sorge“, meinte der Mann vergnügt. „Ich habe einen Gemüsegarten. Außerdem spiele ich gerne Fußball. Und malen lerne ich auch. Und manchmal lese ich Geschichtsbücher. Ist ja hochinteressant, wie umständlich die Leute früher waren!“ „Zugegeben“, sagte der Onkel. „Aber woher kriegen Sie die Unmenge Elektrizität, die Sie in Ihrer Stadt verbrauchen?“ „Von den Niagarafällen“, erzählte der Mann. „Leider hat es dort seit Wochen so geregnet, daß wir sehr in Sorge sind. Die Spannung und die Stromstärke haben derartig zugenommen, dass wir fürchten, in der Zentrale könnten die Sicherungen durchbrennen. Ach, da erscheint gerade die 4-Uhr-Zeitung.“ „Wo denn, Herr Nachbar?“ fragte Konrad. Der Aufseher starrte zum Himmel empor. Die andern folgten seinem Beispiel. Und tatsächlich, am Himmel erschienen, in weißer Schrift auf blauem Grunde, Zeitungsnachrichten. „Keine Gefahr für Elektropolis!“ stand da. Und dann folgte ein Gutachten der Sicherheitskommission. Außerdem erschienen Notizen über die Wirtschaftsverhandlungen mit dem Mars, über die letzten Forschungsergebnisse der verschiedenen wissenschaftlichen Institute, über die morgigen Rundfunk- und Heimkinodarbietungen, und zum Schluss wurde die Romanfortsetzung ans Himmelsgewölbe projiziert. Konrad wollte gerade den Roman zu lesen anfangen, da entstand plötzlich ein Höllenlärm. Aus den Luken der Fabrikwand fielen die Produkte der Viehverwertung in immer rascherem Tempo. Es regnete förmlich Koffer und Fleischsalat, Butter, Stiefel, Schweizer Käse und Schlagsahne. Die Waggons liefen über. Jetzt flogen schon Backsteine, Fensterrahmen und Maschinenteile aus den Luken. „0 weh!“ schrie der Aufseher. „Die Fabrik frisst sich selbst auf!“ Und er rannte davon. Die Katastrophe begann damit, dass die Elektrizitätswerke der Stadt infolge der Überschwemmungen am Niagara von der hundertfachen Kraft getrieben wurden. Die Maschinen der Viehverwertungsstelle liefen, als sämtliche Herden verarbeitet worden waren, leer. Schließlich liefen sie rückwärts, saugten die Butterfässer, den Käse, die Koffer, die Stiefel, das Gefrierfleisch, die Dauerwurst und alles übrige aus den Waggons heraus und spien am Fabriktor das ursprüngliche Vieh wieder aus dem Trichter. Die Ochsen, Kälber und Kühe rannten brüllend und nervös auf die Straße und in die Stadt hinein. Der Onkel und Konrad waren auf ihr Pferd geklettert und wurden von den wild gewordenen Viehherden fortgerissen. Auf den Straßen rasten die Rolltrottoirs wie irrsinnig dahin. Die automatischen Autos schossen wie Blitze vorbei, prallten gegeneinander oder sausten in Häuser hinein und rasten treppauf. Die elektrischen Lampen schmolzen. Die künstlichen Gärten welkten und blühten in einem fort. Am Himmel erschien schon die Zeitung von übermorgen. Das Pferd war dem nicht länger gewachsen. Es blieb auf der Fahrbahn stehen und schlotterte mit den Knien. „Entschuldigen Sie, Kaballo!“ rief der Onkel und gab dem Pferd mit dem Spazierstock einen solchen Schlag auf die Kehrseite der Medaille, dass das Tier vor Schreck alle Angst vergaß und wie besessen durch die Katastrophe jagte. Nach etlichen Minuten waren sie bereits aus der Stadt hinaus und gerettet. „Eine verdammt kitzlige Sache, die Technik“, sagte das Pferd. Sie sahen zurück und konnten beobachten, wie die Fahrstühle aus den Dächern flogen. Der Lärm der schwankenden Aluminiumwolkenkratzer klang nach Krieg. Onkel Ringelhuth klopfte dem Pferd den Hals, trocknete sich die Stirn und sagte: „Das Paradies geht in die Luft.“ Konrad packte den Onkel am Arm und rief: „Mach dir nichts draus! Wenn ich groß bin, bauen wir ein neues!“ Und dann ritten sie weiter. Immer geradeaus. Der Südsee entgegen. Erich Kästner – Der 35. Mai (1932)