Ein Briefwechsel im 'Geiste der Zeit'
andreas hilsberg
6 frankfurt/m., d. 19. 10. 71
wiesenhüttenplatz 34
tel: 23 24 10
herrn
professor karlheinz stockhausen
5 köln
musikhochschule
sehr geehrter herr stockhausen,
in anschluß an donaueschingen habe ich eine frage an sie, die ich ihnen in der fürstenbergischen brauerei schon einmal stellte. durch ungenaue formulierung meinerseits und durch die zeitliche begrenzung der diskussion kam es zu einem mißverständnis.
ganz kurz möchte ich mich ihnen vorstellen: ich bin student der musik, germanistik und der materialistischen soziologie in frankfurt. mein spezialgebiet ist zielpublikumsgebundene komposition mit den mitteln der musik, der sprache und des theaters. in seminaren der musikhochschule habe ich mich mit einigen ihrer werke genauer befaßt.
meine frage an sie ist nun: wie sehen sie ihre komposition im spiegel der gesellschaft und welche auswirkungen gesellschaftlicher art kann die tatsache haben, daß ihre werke nur an eine spezifische schicht der bevölkerung verkauft werden? die masse der menschheit ist von ihrer musik ausgeschlossen: die masse gesellschaftliche werte schaffender arbeiter. ich meine damit keinesfalls - wie sie es verstanden haben -, daß von ihrer musik nicht viel verkauft wird; soweit ich es überschauen kann, sind sie der E-musikkomponist mit dem größten marktteil (unter den zeitgenössischen komponisten).
ich glaube, eine beantwortung dieser frage gefunden zu haben - sie ist aber ungeheuerlich.
woher weiß ich nun, daß arbeiter ihre musik nicht hören? einmal haben mir meine kontakte zu arbeitern und lehrlingen dies bestätigt - das würde auf die gesamtheit der arbeitenden weltbevölkerung jedoch noch wenig aussagen. eine andere - theoretische - erklärung ist besser: der arbeiter lebt in zwei welten:
seine arbeitszeit und seine freizeit. in der freizeit darf er nicht produktiv sein, sie ist dazu da, seine während der arbeitszeit verbrauchte energie wiederherzustellen. um ihre musik zu hören, muß der hörer jedoch selbst produktiv sein, und sei es gedanklicher art. aus dem aspekt der konsumhaltung ist ihre musik nun mal nicht zu verstehen. somit tritt der widerspruch auf, daß sie mit den produkten der arbeiter komponieren und produzieren (zb technische geräte etc.), aber nicht für die arbeiter komponieren. die arbeiter produzieren die gesellschaftlichen werte, die ihnen, mir und vielen anderen die möglichkeiten zu differenziertem leben eröffnen, sie selbst sind jedoch davon ausgeschlossen.
welche folgerung, meinen sie, ergibt sich nun daraus oder mache ich einen denkfehler? sie würden nicht nur mir, sondern auch vielen anderen studenten einen großen gefallen mit der beantwortung dieser frage tun. wir haben uns in der analyse festgefahren und könnten vielleicht mit ihrer antwort weiterarbeiten.
eine zweite überlegung habe ich noch zum thema der donaueschinger diskussion angestellt: es tauchte der widerspruch auf: forderung nach flexibilität des orchesterapparates und individualisierung des orchesterbetriebes gegenüber den finanziellen realitäten. sie sagen selbst, daß die entwicklung des orchesterapparates stocken muß, wenn die bisherige praxis beibehalten wird. ihre forderung an das orchester ist die einzig wahre und richtige, aber sie wird solange nicht durchführbar sein, wie sich die gesellschaftlichen produktionsverhältnisse nicht ändern. seit jeher war die kultur - kunst, religion und rechtsprechung - ein spiegelbild der gesellschaftlichen verhältnisse. so ists nun auch mit dem orchester . solange unsere produktionsverhältnisse streng geteilt sind in produzenten und konsumenten, in kapitaleigner und arbeiter, kann sich auch das schlimme orchesterwesen nicht ändern. die tendenz wird eher weiter in die richtung gehen, wie sie aus new york berichtet haben (ich meine jetzt die sache mit dem gewerkschaftsvorsitzenden am dirigentenpult).
sie haben nun das interesse artikuliert, diese verhältnisse zu ändern. ziehe ich die letzte konsequenz aus dem vorher gesagten, genauer gesagt: würden sie jetzt die konsequenz aus dem vorher gesagten ziehen, müßten sie ihren kaum übersehbaren riesigen einfluß auf das moderne kulturleben dazu benutzen, die gesellschaftlichen produktionsverhältnisse zu ändern und auch musik für die arbeiterklasse schreiben. erst dann wird sich ihre musikalische und außermusikalische forderung an den menschen schlechthin verwirklichen lassen.
dies ist die - von mir vorhin angekündigte - unheimliche lösung. ich sehe dies als einzigen ausweg, der ihrem in donaueschingen artikulierten interesse entspräche.
ich hoffe, mit meinen gedanken ihre zeit nicht übermäßig beansprucht zu haben - aber mit mir warten noch viele auf eine antwort von ihnen und wir wären ihnen dafür sehr dankbar .
ich grüße sie und ihre kinder, die ich in donaueschingen per augenschein kennengelernt habe und um ihren vater beneide, sehr herzlich
andreas hilsberg
Karlheinz Stockhausen 5073 Kürten
2. November 1971
Sehr geehrter Herr Andreas Hilsberg,
Ihr Brief ist wirklich unerhört. Sie behaupten Dinge, die Sie vorher nicht geprüft haben. Ich habe in Osaka für ca. 1 Million Menschen meine Musik 5 1/2 Stunden pro Tag aufgeführt für 183 Tage. Das entspricht einer Konzerttätigkeit von 16 Jahren mit 70 Konzerten pro Jahr für ca. 1000 Personen am Abend. In Japan waren alle Bevölkerungsschichten im Auditorium, und selbstverständlich waren die allermeisten aus der Arbeiterschicht.
Die von Ihnen genannte >Masse der Menschheit< ist keineswegs von meiner Musik ausgeschlossen. Ich komme selbst aus der >Masse< und habe in meiner Familie nur Bauern und Arbeiter. Diese Menschen bemühen sich, soweit das ihnen von der musikalischen Begabung her möglich ist, auch meine Musik zu verstehen, und nicht nur Lehar.
Sie machen einen Denkfehler, wenn Sie annehmen, daß jeder Mensch potentiell dazu in der Lage sei, sich mit Musik zu befassen, wie ich sie mache. Ich kenne eine ganze Reihe von Leuten, die beliebig viel Zeit haben, und absolut nichts mir meiner Musik anfangen können. Das wird wahrscheinlich sogar für die allermeisten Menschen der Fall sein, deren musikalisches Interesse sich bei relativ einfachen und auf Wiederholung historischer Klischees beruhenden musikalischen Erzeugnissen am wohlsten fühlt. Ich bin vor kurzem in Wien in einer Aufführung der >Lustigen Witwe< gewesen. Wenn Sie sich das Publikum angesehen hätten, wären Sie erstaunt gewesen über den Wohlstand dieser Leute.
Deren Geschmack würde aber mit meiner Musik überhaupt nichts anfangen können.
Sie sind auf dem Holzweg, wenn Sie meinen, alles sei für alle auf dieser Welt.
Es gibt sehr arme Leute, die einen ausgezeichneten Geschmack und eine sehr musikalische und auch fortschrittliche Bildung haben, Und es gibt eine überzahl von Leuten der besitzenden Mittelklasse und vor allen Dingen von sehr reichen, die total geschmacklos und unmusikalisch sind.
Mein Publikum rekrutiert sich im wesentlichen aus den jungen Menschen in des ganzen Welt, die für die Zukunft offen sind. Ich sehe, dass Ihre Erziehung an der Universität Sie völlig weggeführt hat vom Verständnis für das, was Musik überhaupt ist. Sie werden sehr bald selbst prüfen können mir den Prinzipien Ihrer materialistischen Soziologie, was der ‚Arbeiter’ anfängt, wenn die Automatisation soweit fortgeschritten ist - und wir sind ja sehr nahe daran -daß diejenigen, die die Apparate produzieren, nicht nur 3, sondern 4 Tage pro Woche frei haben werden. Ich sage Ihnen jetzt schon im voraus, daß diese Arbeiter, obwohl sie dann 4 Tage pro Woche frei haben werden, wahrscheinlich x mal eine Reise zu irgendwelchen Fußballspielen machen und den Rest der Zeit vor Femsehempfängern verbringen werden; daß sie sich aber den Teufel scheren um Musik, wie ich sie mache. Das wird die Allgemeinheit betreffen. Einzelne Ausnahmen gibt es natürlich immer.
Sollten Sie aber darauf hinaus sein - wie vielleicht noch mehrere Ihrer Mitstudenten und Lehrer -, daß Sie Leute wie mich durch irgendwelchen ideologischen Druck zwingen wollen, Musik von einer Art zu machen, die mit relativer Vorhersehbarkeit jedem gefällt, so primitiv auch sein Geschmack ist, so sind wir wieder da angekommen, wo die Nazis schon einmal waren. Die haben ja nicht umsonst die meisten Komponisten und Künstler >entarteter Kunst< aus dem Land hinausgejagt und ihre Arbeit verboten. Deren Musik war eben auch nicht genug >populär<. Ob Sie das Ganze unter dem fadenscheinigen Namen einer materialistischen Soziologie vertreten oder einer nationalsozialistischen: das Ergebnis kommt ziemlich auf das gleiche hinaus. Wie Marcuse schon sagte: In den achtziger Jahren wird das Wort Kunst ein Schimpfwort sein. Und Sie sind eine der kleinen Ameisen, die zum Zerfressen des allgemeinen Bewußtseins von Qualität mit beitragen, ohne es zu wissen.
Freundliche Grüße trotzdem von Ihrem
Stockhausen