In der Popmusik gibt es seit gut einem Jahrzehnt vollständig virtuelle Popstars wie
Miku Hatsune, die trotz ihrer Virtualität mehrere zehntausend Zuschauer in Konzerthallen ziehen, in denen dann Leinwandprojektionen eben dieser Kunstfigur bejubelt werden.
Nun ist der Aufbau einer Beziehung (im weitesten Sinne) zu einer virtuellen Person nichts Neues: Wer hätte sich als Kind nicht in eine Figur aus Film, Fernsehen oder einem Buch verliebt, oder als Heranwachsender intensive Gefühle für eine Sängerin oder einen Sänger entwickelt, die er oder sie in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle einzig und allein aus Medien kennt?
Nur stellen die neuen virtuellen Popstars in aller Deutlichkeit die Frage, ob es bei einer Figur, der man nach allen Gestzen der Wahrscheinlichkeit nie & nimmer persönlich begegnen wird, für das Ausmaß der Bindung zu dieser Figur noch irgendeinen Unterschied macht, ob diese Figur real ist oder eben virtuell. Zur Freude der Industrie lautet die Antwort damals wie heute: Nein, das spielt keine Rolle, und deswegen funktionierten damals Poster, Starschnitte und Figuren, und heute eben Konzerte virtueller Künstler.
Und in Zukunft wird wohl noch mehr funktionieren. Es gehört nicht viel Fantasie dazu sich vorzustellen, dass Entwicklungen von Firmen wie
Boston Dynamics über militärische Anwendungen hinausreichen werden – vielleicht wird es in 20 Jahren Konzerte von Miku Hatsune geben, auf denen Roboter auf der Bühne umjubelt werden.
Ob sich die Aufführungspraxis "klassischer" Musik mit ihren Konzertsälen solange halten wird?
Diese wird sich wohl solange halten, wie Menschen bereit sein werden, Geld dafür zu bezahlen, andere Menschen in realer Anwesenheit beim Musizieren zu beobachten.
Waum? Weil dort demonstriert wird, zu welchen Leistungen
Menschen in der Lage sind. Damit meine ich ausdrücklich nicht, dass ein Konzertpianist eine Leistung erbringen würde, die eine Maschine nicht ebenso oder vielleicht sogar besser (im Sinne von "schneller" oder "präziser") erbringen könnte, sondern dass im Konzertsaal die menschliche Leistung als solche vorgeführt, genossen, gefeiert und verglichen wird, im Sinne von: Ist Lang Lang ein besserer Pianist als Ivo Pogorelich, hat Martha Argerich die beste Interpretation von Tschaikowskis erstem Klavierkonzert geliefert und so weiter und so fort.
Hinzu kommt das schwer in Worte zu fassende Phänomen, dabei zu sein, wenn ein Interpret ein bekanntes Werk so interpretiert, dass entweder völlig neue Facetten eines Stücks sichtbar werden, oder dass bereits bekannte Facetten in einem neuen Licht erscheinen, so dass man das Gefühl hat, ein Stück Musik zum ersten Mal in seiner ganzen Schönheit zu hören.