Re: Klassische EM / EM - "Synthesizermusik" - New Age
betadecay schrieb:
[...] KS und TD würde ich dort eher nicht einsortieren wollen. [...]
Die haben vielleicht ein Genre angestoßen, aber zur damaligen Zeit war Georg Deuter schon eindeutig esoterischer und "njuäidschiger" unterwegs, was kein Wunder ist als Sannyasin. Auch Eberhard Schoener versuchte sich damals als Weltmusiker mit indonesischen Einsprengseln in seiner Musik, aber das hatte mehr die Qualität von
Erleuchtung für Finanzbeamte und
Spirituellem Pauschaltourismus.
Kitaro bekam von Schulze gezeigt, wie man Synthesiser einsetzt, und Kitaro ist erst Mitte oder Ende der 1980er ekelhaft zuckrig und so komisch wimmerig geworden. Klanglich süßlich und transzendenten Themen zugetan war er schon davor, was ich auf seine kulturelle Prägung in der Shinto-Spiritualität zurückführen würde.
Schulzes eigenes Label -IC- hat den einen oder anderen Mist im Laufe der späten 1980er auf den Markt geworfen, was für mich nicht mehr viel mit elektronischer Musik (wie
ich sie mir vorstelle) zu tun hatte, sondern eher den debil-weichgespülten Geschmack irgendwelcher MOR-Hörer an der amerikanischen Westküste bedienen sollte. Und da gab es einen großen Bedarf, sodaß bei -IC- schlimme Musik im Dutzend rausgehauen wurde, unter z. T. hanebüchenen pseudophilosophischem Gefasel.
Peter Baumann hat auf seinem Label
Private Music ebenfalls ein paar ganz schauderhaften Musikern ein Sprungbrett geliefert (Yanni z. B.). Diese Art von Musik traf auf geschmacklichen Widerhall beim WDR-Programm
Schwingungen und seinen Hörern und prägte fortan die geschmackliche Wahrnehmung dermaßen, daß im Prinzip alles über Bord ging, was nicht klimperig, dudelig und wohlgefällig war. Da wurde dann auch plötzlich ganz üblen Scharlatanen ein Forum geboten, die mit ihrer elektronisch erzeugten Blubbermusik den Nerv des mittlerweile grenzdebil vor sich hin sabbernden Publikums trafen -- mit "elektronischer Musik" hatten diese Macher nichts mehr gemein, außer, daß sie ihre Galadudelband kurzerhand durch Drumcomputer, Sequenzer und Roland D-50 ersetzt hatten (Werkspresets, versteht sich). Von dort zum Schallwelle-Preis war es nur noch ein kleiner Schritt, aber ich schweife ab.
Der oftmals verpönte (weil von ebenso disziplin- wie talentfreien Dudelonanisten bis zum Erbrechen mißbrauchte) Terminus
Berliner Schule bezeichnet in meiner persönlichen Wahrnehmung eine Geisteshaltung, die sich durch das Arbeiten mit anfangs primitiven Mitteln auszeichnete -- mit z. T. minimaler, aber auch manchmal maximaler Wirkung: Hier ist die Farfisa, hier ist das Dynacord Echo, mach was damit. Dieser ganze Berliner Underground der frühen 1970er war fest verwurzelt in der 68er Subkultur und dem Bestreben nach dem Schaffen einer ureigenen musikalischen Ausdrucksform, die als Gegenbewegung nicht nur zu anglo-amerikanischen Musikimporten (böse Imperialisten!), sondern auch zu etablierten Hörgewohnheiten und Musiktraditionen verstanden wurde. Im Prinzip Protopunk mit anderen Mitteln. Die Leute, die diese Musik machten, waren allesamt Nonkonformisten, Künstler (Conny Schnitzler war Beuys-Schüler, Edgar Froese Maler und Bildhauer), Studenten, Aussteiger (kennt jemand die Biographie von Hartmut Enke, dem Bassisten von
Ash Ra Tempel?) und das, was man damals im weitesten Sinne unter "Gammler! Unter dem Führer hätte es das nicht gegeben!" einsortiert hätte. Das waren Leute aus der Generation, die das kulturelle Vakuum nach dem Dritten Reich wieder mit Inhalt füllen wollten und die Rolle der eigenen Eltern in der jüngsten Geschichte hinterfragten -- also Befreiung von allem Althergebrachten im weitesten Sinne.
Heute führen Verwaltungsangestellte und Versicherungskaufleute diese Tradtion fort, die in ihrer Freizeit auch mal endlich was Wichtiges machen wollen, für das man sie in ihrer trostlosen Existenz auch mal bemerkt und für eine Viertelstunde bewundert. Das ist keine Gegenkultur mehr im Sinne von Rolf-Ulrich Kaiser, das ist Freizeitbeschäftigung. Was sicherlich auch ganz nett ist, wenn man es sich leisten und aus dem Vollen schöpfen kann, weil sonst keine existenziellen Zwänge eine Rolle spielen.
Daß heute Hobbymusikanten diese Form wegen ihrer augenscheinlich so simplen Erfolgsformel für sich entdeckt haben, ist nicht den Gründern dieser Schule anzulasten, sondern einem grundlegenden Mißverständnis, das (auch) aus mangelnder Sachkenntnis herrührt.
Diese ganze Einsortiererei hat im übrigen was von "Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen". Es gibt nur gut gemachte Musik und schlecht gemachte Musik, und die kennt kein Genre.
Stephen