Ich glaube das Hauptproblem sind falsche Erwartungen, missverständliches Vokabular und der scheiss Kapitalismus, der die Kunst (okay, sagen wir lieber "Musik"
) längst aufgefressen hat und dafür sorgt, dass wir uns gegenseitig in die Tasche lügen.
ppg360 schrieb:
Sowas finde ich z. B. ganz furchtbar -- ich will bei einem Livekonzert jemanden sehen, der mir zeigt, daß er seine Instrumente beherrscht --
Ich finde es überhaupt nicht furchtbar! Ganz im Gegenteil, gibt wenige Dinge die so viel Spass machen wie Outdoor-Raves.
Allerdings liegt mir auch nichts ferner, als die Verwendung der Begriffe "Live" bzw "Konzert" (oder sogar dem Verbinden der beiden Begriffe) in diesem Zusammenhang.
Es sei denn man einigt sich darauf, dass "Livekonzert" ab jetzt alle Veranstaltungen genannt werden, bei denen eine Software verwendet wird, die "Live" im Namen trägt. Bands und Orchestren dürfen ihre Livekonzerte dann nur noch Playbackshows nennen, wenn sie nach Noten spielen. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich die Mehrheit (zu Recht) gegen diesen radikalen Angriff auf die Dialektik aussprechen würde.
ppg360 schrieb:
Wenn der da nur seinen Laptop aufklappt, kann ich mir genausogut eine CD anhören
Ja, das seh' ich ganz genauso. Allerdings muss die CD ja auch jemand reinlegen. Und der, der die CD reinlegt, will sich dann meistens auch von den Menge als Held feiern lassen. Diese Geschichten kennen wir, und man hat sich doch inzwischen dran gewöhnt, dass die DJs zu schwach, zu faul, oder (und das ist sicher der tatsächliche Grund) zu schlecht bezahlt sind, um ihre Plattenkoffer mitzunehmen. Es ist nicht mehr viel zusätzliche "Toleranz" notwendig, um zu akzeptieren, dass inzwischen sogar die CDs zu schwer (oder zu teuer) sind und man sich daher auf die klappbare Mini-Schreibmaschine beschränkt.
Niemand is bei der Werbung ehrlich. Keiner schreibt aufs Plakat: "Erwin, der die letzten drei Wochen im Vollrausch Audio-Loops aus dem Internet gezogen hat wird am Donnerstag ein halbwegs akzeptables Arrangement daraus basteln (das kann er erfahrungsgemäß ziemlich gut). Am Samstag bringt er sein Laptop mit, spielt uns das Arrangement vor und wird dazu ein paar Effektparameter in Echtzeit verändern. Wenn ihr kommen wollt könnt ihr 15 Euro Eintritt bezahlen oder dem Erwin einen blasen." Neeeeee, wenn die im Laden nebenan genau das gleiche Veranstalten und nur "Live Elektro" draufschreiben, dann hat der Erwin kein Publikum.
Ich war etwas erstaunt, aber hab am letzten Samstag mitbekommen, dass offenbar tatsächlich viele Leute (die selber keine Musik machen) glauben, dass Live Acts alles Live machen, und dass es nur Sekundenbruchteile dauert um einen neuen, geleckten Loop aus dem Nichts zu erstellen. Ebenso hab ich schon mehrmals erlebt, wie Leute den grandiosen Sound und diese wahnsinnig kreativen Improvisationen von Bands loben, die tatsächlich einen Backingtrack abfeuern und ganz unglaublich miserabel dazu spielen. Daraus kann man folgern, dass sich Leute, die selber keine Musik machen, der Illusion sehr gerne hingeben. Andere widerum fühlen sich betrogen.
Mit zunehmendem Wohlstand können sich immer mehr Leute eine musikalische Ausbildung finanzieren. Als Optimist vor dem Herren gehe ich davon aus, dass diese in ein paar Jahren zum "Standard" gehört, so wie der Führerschein und Englisch Grundlagen. Dann werden diese Missverständnisse sicher auch von selbst verschwinden.
(der Pessimist in mir sagt aber irgendwie, dass sich zunehmend die Meinung etabliert, es wäre immer weniger notwendig, ein Instrument zu spielen bzw zu üben. Hören wir besser nicht auf ihn)