Re: 29.-31.10.10 Bonn, Forentreffen
sadnoiss schrieb:
Ja, es geht ja beim Mitbringzwang vor allem auch darum, gleiche Voraussetzungen zu schaffen, keine reinen Gaffer, jeder hat hat seine Sachen dabei und kann dann mit den anderen über die Vor- und Nachteile der Gerätschaften diskutieren ...
SPIRAL für einen Solisten (1968)
(geschrieben Januar 1970)
In SPIRAL werden Ereignisse, die ein Solist mit einem Kurzwellenradio empfängt, imitiert, transformiert und transzendiert.
Außer dem Radio kann er ein beliebiges Instrument, mehrere Instrumente, Instrument und Stimme, oder nur die Stimme benutzen.
Zur räumlichen Projektion und Verstärkung von Instrument, Stimme und Kurzwellenklängen benötigt er Mikrophone und wenigstens zwei Lautsprecher.
Die Lautsprecher können von einem Assistenten geregelt werden, um das Verhältnis von Direktklang und Lautsprecherklang musikalisch zu gestalten.
SPIRAL ist eine Folge von Ereignissen, die durch verschieden lange Pausen getrennt werden. Ein Ereignis wird entweder gleichzeitig mit KW-Empfänger UND Instrument/Stimme realisiert, oder NUR mit Instrument/Stimme. Das erste Ereignis muß mit KW-Empfänger und Instrument/Stimme realisiert werden. Seine Dauer, Lage, Lautstärke, rhythmische Gliederung sind relativ frei.
Einem KW-Ereignis soll sich das gleichzeitige Instrumentale/Vokale so angleichen, daß es mit ihm verschmilzt.
Vom zweiten Ereignis ab ist der Wechsel von Ereignissen mit oder ohne KW-Empfänger frei; es soll jedoch ein ausgewogenes Verhältnis der Ereignisse mit und ohne KW-Empfang angestrebt werden.
Für das zweite und jedes weitere Ereignis bestimmt der Solist Dauer, Lage, Lautstärke und rhythmische Gliederung gemäß der fortlaufenden Reihenfolge von Transformationszeichen, die in einer Partitur notiert sind.
Alle anderen Eigenschaften - Klangfarbe, Proportionen der rhythmischen Glieder, Melodik, Harmonik, vertikale Schichtung usw. -, die sich aus einem KW-Ereignis ergeben, sollen mit Instrument/Stimme so genau wie möglich imitiert werden; sie werden von Ereignis zu Ereignis möglichst beibehalten, bis sie sich durch ein neu gewähltes KW -Ereignis erneuern. Beim Suchen eines Kurzwellenereignisses soll man leise von Sender zu Sender wechseln, bis man etwas gefunden hat, was den notierten Verhältnissen der Tonhöhenlagen entspricht. Darüber hinaus aber ist für die Wahl entscheidend, daß der Solist eine möglichst breite Skala zwischen konkreten und abstrakten Klangereignissen in einer Interpretation anstrebt und sich immer der nächsten Transformation bewußt ist, die er mit diesem Ereignis durchzuführen hat. Er soll bei einzelnen Sendern verschieden lange verweilen, und auch das Suchen sollte immer musikalisch artikuliert sein.
Außer einfachen Transpositionen (wie höher - tiefer, länger - kürzer, leiser - lauter, mehr Glieder - weniger Glieder) gibt es noch besondere Transformationen: Ornamentierung, polyphone Artikulation, periodische Gliederung, Echos, 'Erinnerungen', 'Ankündigungen', Permutation von Gliedern, lange bandförmige Verdichtungen von Elementen, akkordische Raffungen, Spreizungen, Stauchungen.
Ab und zu kommt eine Transformation vor, die dieser Prozeß-Komposition den Namen SPIRAL gab:
»Wiederhole das vorige Ereignis mehrmals,
transponiere es jedesmal in allen Bereichen
und transzendiere es über die Grenzen
deiner bisherigen Spiel-/Gesangstechnik
und dann auch über die Begrenzungen
deines Instrumentes/deiner Stimme
hinaus.
Hierbei sind auch alle visuellen, theatralischen
Möglichkeiten angesprochen.
Behalte von nun an, was du in der
Erweiterung deiner Grenzen erfahren
hast, und verwende es in dieser und
allen zukünftigen Aufführungen von SPIRAL.«
Besitzt nicht nahezu jeder einen Kurzwellenempfänger? Und hat nicht jeder eine Stimme?
Wäre es nicht für jeden eine künstlerische Lebensform, das Unvorhergesehene, das man aus einem Kurzwellenradio empfangen kann, in neue Musik zu verwandeln, das heißt, in einen bewußt gestalteten Klangprozeß, der alle intuitiven, denkerischen, sensiblen und gestalterischen Fähigkeiten wachruft und schöpferisch werden läßt, auf daß sich dieses Bewußtsein und diese Fähigkeiten spiralförmig steigern?!
SPIRAL ist im September 1968 in Madison/Connecticut entstanden. Michael Lorimer, ein junger amerikanischer Gitarrist, kam im August 68 nach Darmstadt. Er hatte mich schon des öfteren um eine Komposition für Gitarre gebeten und wollte mir alle Möglichkeiten des Gitarrespiels und der bereits vorhandenen Kompositionen für Gitarre zeigen. Ich begann im September mit einer Komposition für Gitarre, kam aber einfach nicht voran, da ich nicht den nötigen Enthusiasmus hatte, bei jedem Akkord, bei jeder Passage die Fingerstellungen auszuprobieren. Endlich legte ich die Arbeit beiseite und begann mit der Komposition SPIRAL, die an die früheren Prozeß-Kompositionen PROZESSION und vor allem KURZWELLEN anknüpfte, und die sich - nach den Erfahrungen der ersten Aufführungen der Textkompositionen AUS DEN SIEBEN TAGEN - in den Anforderungen des Spiralzeichens an den Spieler auf metamusikalische Erfahrungen richtete.
Lorimer kam dann nach Madison, war höchst überrascht über das Resultat und auch wohl ein wenig enttäuscht, da er nach mehreren Tagen intensiven Übens das Stück "viel zu schwer" fand und , "lieber etwas Leichteres" gehabt hätte.
Die erste Aufführung spielte der Oboist Reinz Rolliger auf der Biennale in Zagreb im Mai 1969, und im Juni 1969 machte Michael Vetter (elektrische Blockflöte) die ersten Schallplattenaufnahmen.
Ergänzung Ende 1970:
Während der Weltausstellung EXPO 70 in Osaka, Japan, wurden täglich von 15.30 bis ca. 21.00 Uhr Werke Stockhausens von 20 Musikern im Kugelauditorium des Deutschen Pavillons für über 1 Million Zuhörer live aufgeführt.
Eines dieser Werke war SPIRAL, das mehr als 1300mal vom 14. März bis zum 14. September 1970 täglich in verschiedenen Versionen gespielt oder gesungen wurde.
Karlheinz Stockhausen – Texte zur Musik
Band 3, 1963-1970