Die Art wie Skalen funktionieren sind verschieden.
Meist sind sie aber trotzdem aus den bekannten Tönen bestehend. Man streicht nur quasi einige heraus.
Microtuning hingegen lässt ja auch Töne zu, die nicht 12-Ton-System-artig sind. Da muss man dann eben auch die Töne selbst verschieben und ggf. schauen ob die irgendwie korrigiert werden muss im Zusammenspiel.
Das ist der Unterschied.
Es ist eine Illusion und vergebliche Liebesmüh, auf Biegen und Brechen die Begriffe "Skala" und "Stimmung" trennscharf unterscheiden zu wollen.
Im Alltagsgebrauch läuft das in 95% doch sowieso völlig problemlos, da gibt es kaum Missverständnisse. Die Probleme fangen erst an, wenn man, wie wir es so lieben, die Sache theoretisch bis ins Detail auseinanderfriemelt. Denn dann kommt man, selbstverständlich, darauf, dass die beiden Worte nicht einfach zwei komplett verschiedene Dinge bezeichnen, sondern dass es da etwas kniffligere Zusammenspiele gibt.
Ich für meinen Teil halte es so: eine
Skala ist bei mir eine Auswahl von Tönen (im Engl. würde ich hier sagen: "pitches") aus einem Ton-Vorrat (die Auswahl kann aber natürlich auch alle Töne des Vorrats umfassen, auch wenn's dann strenggenommen keine Auswahl mehr ist). Die Abfolge, in der die ausgewählten Töne aufgereiht sind, mag dabei auch eine Rolle spielen (Stichwort "Modi": ich kann dieselbe Ton-Auswahl auf verschiedenen Stufen beginnen lassen, und erhalte dann Skalen, die bezogen auf den Referenz- oder Grundton unterschiedlich strukturiert sind).
Meinetwegen die Skala namens "natürlich Moll": LsLLsLL
...oder "die" handesübliche Dur-Skala (aka "ionisch"): LLsLLLs
("L" = großer Schritt, "s" = kleiner Schritt, wobei sich in unseren Breiten eingebürgert hat: 1x L = 2x s -- wir brauchen für diese Skalen also einen Vorrat an 12 kleinen Schritten, die wir dann in 5 große und 2 kleine gruppieren)
Damit ist aber noch nichts gesagt darüber, welche genauen Tonhöhen (v.a. im Sinne von relativen Tonhöhen zum Grundton) sich hinter den Tönen einer Skala verbergen. Wir müssen uns also auch über
Stimmung unterhalten. Bzw., nein, müssen wir in aller Regel eigentlich nicht. Wir sind es gewohnt, die Stimmung als selbstverständlich anzunehmen. Wir können davon ausgehen, dass in unserem Kulturkreis, wenn wir jemandem sagen "Sprung von zweimal L", dies so verstanden wird, dass am Ende ein Intervall herauskommt, das als (wie auch immer genaue oder ungenaue) Annäherung an das Intervall 5/4 wahrgenommen wird -- das wir als "große Terz" bezeichnen und dessen Klang nach nunmehr knapp 3000 Jahren im kulturellen Gedächtnis unserer Breitengrade abgespeichert ist (wenngleich es erst seit der Renaissance als "konsonant" empfunden wird: noch das späte Mittelalter mochte keine Terzen).
Stimmung ist also in aller Regel
kein Thema. Wenn jemand die ersten paar Töne von "alle meine Entchen" spielt, dann interessiert unser Gehör, zwecks Wiedererkennung dieser Melodie, die Frage nach der Stimmung überhaupt nicht. Interessant ist die Abfolge von Schritten, die jeweils als groß oder klein wahrgenommen werden. Ob z.B. der kleine Schritt in dieser Melodie vom dritten zum vierten Ton nun als 15/14 oder 16/15 intoniert wird, oder als 1\17EDO oder als 25/24 oder exakt 100cent -- das spielt, wage ich in aller Plattheit zu sagen, keine Rolle für den Wiedererkennungswert (und wohlgemerkt: zwischen den Extremen der hier genannten Möglichkeiten liegt ein Unterschied von 50cent).
Soweit könnte man also sagen: irgendwie ist das klar, dass das zwei verschiedene Sachen sind: Stimmungen und Skalen.
Nun heißt aber die einschlägige Software in der mikrotonalen Branche nicht umsonst "Scala", und es ist auch überhaupt nicht anstößig, dass es eine "Bohlen-Pierce Scale" gibt, wie Kollege
@randomhippie schon gesagt hat. Denn natürlich hängen beide Welten eng zusammen.
Aus Stimmungen können sich Skalen ableiten. (I)
Und aus Skalen Stimmungen. (II)
Das sind keine getrennten Schubladen, und die Zusammenhänge zwischen beiden Konzepten sind auch keine Einbahnstraßen.
(zu I)
Ich mache ein einfaches Beispiel für "Stimmung(sparadigm)en, aus denen Skalen werden".
Das einfachste, höchstmöglich-konsonante Intervall ist die Verdopplung der Frequenz, wir schreiben mal: 2/1. Ihm nach folgt die Verdreifachung 3/1, oder, wenn wir unsere Intervalle innerhalb derselben Oktave halten wollen: 3/2. Die 2/1 ist so konsonant, dass sie für unsere Wahrnehmung, melodisch und erst recht harmonisch, kaum Informationsgehalt hat. Sie wurde daher nicht einmal für Wert befunden, in der Symbolik unserer Notenbezeichnungen ein eigenständiges Zeichen zu kriegen: die Verdopplung der Tonhöhe eines "C" nennen wir wieder bloß "C", evt. noch mit einem Pinöpel obendran. Das erste wirklich interessante Intervall ist also die 3/2. Wir könnten also sagen, wir bauen ein Klavier mit einer Taste (1/1), und dann noch einer zweiten, die wir, bezogen auf die erste, als 3/2 stimmen (was, anders als bei komplexeren Intervallen, noch recht gut nach Gehör geht). Wir haben also schon zwei Töne, und vielleicht gönnen wir uns noch die höhere "Kopie" des ersten, die 2/1. (So entsteht nebenbei auch ein weiteres Intervall, die 4/3, auf der Strecke von 3/2 zu 2/1.)
Wie stimmen wir jetzt weiter? Wir könnten die Prozedur wiederholen und von der 3/2 aus wieder eine 3/2 draufsetzen: also 9/4, bzw. 9/8. Wir erhalten einen Ton, der ein Stückchen über dem Grundton liegt, mit einer ziemlichen Distanz zum 3/2. Vier Töne wären also fertig, bzw. abzüglich der 2/1 sind es drei wirklich eigenständige. Weiter: 9/8 * 3/2 = 27/16 (wir landen etwas oberhalb des 2. Tons), und nochmal: 27/16 * 3/2 = 81/64 (etwas oberhalb des 3. Tons). Wir haben also, mit dieser simplen Stimmanweisung, fünf eigenständige Töne produziert:
Bildlich gesprochen:
Code:
1/1- - - - - - - - - - - -2/1
|: 1 - - - - - - - - - - - :|
|: 1 - - - - - - 2 - - - - :|
|: 1 - 3 - - - - 2 - - - - :|
|: 1 - 3 - - - - 2 - 4 - - :|
|: 1 - 3 - 5 - - 2 - 4 - - :|
|: s - s - L - - s - L - - :|
Das Ergebnis ist eine
Skala mit der Struktur: ssLsL, also zwei kleine Schritte, ein großer, dann ein kleiner und noch ein großer -- wobei ein großer Schritt 3/2 mal so groß ist wie ein kleiner. Oder: ein kleiner Schritt entspricht zwei (gedachten!) noch kleineren Schritten, und ein großer Schritt entspricht dreien davon. Die Stimmprozedur nennen wir die "pythagoräische", und die entstandene Skala ist eine Pentatonik. Jetzt hatte ich oben geschrieben, eine Skala ist eine Auswahl aus einem Vorrat -- irgendwie ja doch nicht. Wir haben eine Skala geschaffen, ohne jemals über einen Vorrat von diskreten Intervallen gesprochen zu haben. Wir haben immer nur Strecken gemessen, uns von einem Punkt zu einem neuen gehangelt, ohne dass der schon exisitiert hätte.
(zu II)
Wir können aber auch genauso gut umgekehrt vorgehen. Wir können so tun, als wüssten wir nichts von den Tonhöhen oder Frequenzverhältnissen der Noten, die wir für eine Skala brauchen, die wir spielen sollen. Wir haben nur die Struktur einer Skala im Kopf, sagen wir mal: "Lydisch-Dur", d.h. also:
LLLsLLs (z.B. f g a b c d e f')
Wir tun so, als wüssten wir nur dies eine: dass der Sound dieser Skala sich aus dem kleinen Schritt (s) von der 4. zur 5. Stufe (und von der 7. wieder rauf zur 1.) ergibt, während alle anderen Schritte große sind (L).
Aber dass wir die Tonhöhen natürlich irgendwo herbekommen müssen, ist klar. Kommen wir nicht drumrum.
Wir sitzen da also an der Südküste Kretas auf dem Felsen vor unserer Höhle, mit unserer Gitarrensaite auf eine Holzkiste gespannt und einem Stückchen Kreide, und sollen jetzt irgendwie rausfriemeln, auf welchen Stellen der Saite wir greifen müssen, um so eine Skala zu spielen. Die großen Schritte, das ist klar, sollten merklich größer sein als die kleinen. Doppelt so groß ist vielleicht eine gute Idee. Wir können unser "LLLsLLs" also auch schreiben als "2 2 2 1 2 2 1", und sehen, dass wir als "Tiefenstruktur" eine Unterteilung in 5*2 + 2*1 = 12 etwa gleiche große Schritte brauchen. Dieses "doppelt so groß" ist aber kein Muss. Wir können auch sagen: dreimal so groß. 3 3 3 1 3 3 1, also 5*3 + 2*1 = 17. Oder wir wollen den Unterschied zwischen L und s eher etwas nivellieren: 3 zu 2, also 5*3 + 2*2 = 19. Und so weiter... In jedem Fall landen wir dabei, dass wir auf unserem Monochord eine Reihe von Markierungen für Tonschritte machen, die akustisch etwa gleich groß sind. Von denen nutzen wir beim Spielen dann natürlich nicht alle, sondern beschränken uns auf das, was unsere Skala erfordert. Im Effekt aber haben wir, ohne es vorgehabt zu haben, das Konzept der gleichstufigen Stimmung erfunden.
Von daher, auch wenn's pingelig rüberkommt: einfach zu sagen: "es gibt Skalen, und es gibt Stimmungen", so als wären das zwei verschiedene Welten, das greift mir ein bisschen zu kurz. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Die Tatsache, dass wir über Stimmungen kaum sprechen, sondern sie immer "for granted" nehmen (weil wir kaum Instrumente spielen, die wir von Hand intonieren müssen), täuscht natürlich etwas darüber hinweg.