Re: Musiker, die immer die gleichen Dur-Folgen nehmen...
Deine Frage sind ja eigentlich mindestens zwei Fragen:
(1) wie kam es zur Ablösung der sieben Kirchtonarten durch das Dur-/Moll-Schema? (Wenn es überhaupt angemessen ist, die Entwicklung so salopp in zwei klar getrennte Epochen zu zerteilen)
und
(2) wie kam es -- innerhalb des nun etablierten Dur-/Moll-Schemas! -- zur Bevorzugung bestimmter Tonarten gegenüber anderen? Woher der Eindruck, dass die Leute sich jahrhundertelang auf nur wenige Gegenden des Quintenzirkels beschränkt, andere hingegen regelrecht gemieden haben?
Bei der ersten Frage halte ich mich erstmal zurück, da ich nicht weiß, ob ich überhaupt die Diagnose so unterschreiben würde. Das kommt mir einerseits etwas zu einfach vor: erst hat man nur die Kirchentonarten genutzt, dann hat man angefangen, so zu denken wie heute: unten das harmonische Fundament in Dur oder Moll, obendrauf dann die Melodie. Andererseits bin ich da auch nicht bewandert genug, um das stärker zu differenzieren. Ich würde höchstens einwenden, dass die kontrapunktische Satzweise vielleicht eine Übergangszone zwischen den beiden Paradigmen ist. Aber da werden andere sicher kompetenter sein.
Für (2) musst du dir klarmachen, wie sich das Stimmen (von stimmbaren Instrumenten) über die Jahrhunderte gewandelt hat, nämlich ziemlich häufig und mit deutlichen Überlappungen konkurriender Stimmweisen. Die Ära der Kirchentonarten z.B. geht einher mit der sog. pythagoräischen Stimmung. Die läuft nach Quinten:
Um z.B. auf Basis deines c dein g zu stimmen, kriegt das g exakt 3/2 der Frequenz vom c (weil nichts anderes ist ja seit den Griechen die Quinte und die Quarte, die zusammen die Oktave ergeben: 3/2 x 4/3 = 2). Und dann immer so weiter:
c x 3/2 -> g
g x 3/2 -> d
...
bb x 3/2 -> f
f x 3/2 -> leider nicht ganz wieder c, sondern, weil 3/2 hoch 12 ziemlich krumm ist, einen ganz kleinen Tick (einen ~viertel Halbton) mehr.
Und damit ist das Grundproblem der Stimmung in der Welt (der abendländischen jedenfalls): was tun wir mit diesem Achtelton, den wir zuviel haben? Alle Stimmungen (die sich auf ›unsere‹ Tonleiter mit 12 Tönen pro Frequenzverdopplung beziehen) sind letztlich workarounds zu diesem Probem. Die pythagoräische Stimmung macht es sich einfach: sie stimmt einfach alle Quinten rein (3/2 bzw. 702 cent, weil eine Oktave ist definiert als 12 x 100 = 1200 cent), bis auf eine, die dann um einen Achtelton zu klein ist. Die ›versteckt‹ man irgendwo in einer Ecke des Quintenzirkels, die man dann meidet. Zusätzlich kann man auf Nummer sicher gehen, wenn man sich mit der diatonischen Tonleiter auf dem immergleichen Grundton begnügt, und davon dann eben nur die verschiedenen Modi nutzt.
Als Haken an dieser Stimmweise fand man aber irgendwann, dass die Terzen ziemlich mau klingen. Gehst du von c rechtsrum in reinen Quinten bis zum e, also 3/2 hoch 4, hätte deine Terz c-e die Frequenz 81/64, ist also der Grundton mal 5,0625. DIe reine (=schwebungsfreie) Durterz ist aber 5/4 (fünfter Ton der Obertonreihe; ~386 cent). Da den Leuten die Terzen zunehmend wichtiger wurden, dachten sie sich was neues aus, nämlich die Quinten einen Tick zu verkleinern (zu temperieren), und zwar so, dass eine Reihe von vier Quinten, z.B. eben c bis e, am Ende 5/4 ergibt. Das ist die sog. Mitteltönige Stimmung, die so heißt aus Gründen, die wiederum die großen und kleinen Sekunden betreffen (lassen wir mal...). Die Quinten sind hier nur noch ~696 cent groß. Man also bei ihnen Reinheit geopfert, um die (nun wichtigere) Reinheit der Durterzen zu sichern. Der sog. Wolf, also die böse, viel zu unreine Quinte, ist übrigens immer noch da, diesmal größer als in der Pythagoräischen Stimmung, weil man die Quinten jetzt quasi ›zu viel‹ verkleinert hat.
An dieser Stelle ist der Knackpunkt bzgl. des Übergangs zum Dur/Moll-Schema. Die historische Korrelation ist: Abschied von Kirchentonarten und Melodie-Fixierung (zugunsten von Dur/Moll-Schema und stärkerem Interesse an Harmonik) *und* Abschied von der quitenreinen Stimmung mit nicht so dollen Terzen (hin zu Stimmungen, die möglichst viele reine Terzen hervorbringen, wenn auch auf Kosten der Quintenreinheit). Mitte 16. Jahrhundert, vielleicht Palestrina als entscheidende Figur.
Man hätte sich auch sagen können: wenn wir eine Oktave als 1200 cent definieren, können wir auch jede Quinte auf exakt 700 cent setzen (12 x 700 = 8400 cent, also glatt sieben Oktaven). Dann hätten wir sie (a) gegenüber der reinen Stimmung nur ganz wenig verkleinert, (b) unsere Terzen immerhin ein bisschen verbessert, vor allem aber (c) die Wolfsquinte überwunden, könnten also den kompletten Quintenzirkel bespielen.
Letzteres ist die gleichstufige Zwölftonstimmung (»12-tone equal temperament«, 12tet), die schon vor 500 Jahren gedacht, aber nicht umgesetzt werden konnte, bzw. nach der auch kein Bedarf war, weil das gleichmäßige Bespielen des Quintenzirkels gar kein Ideal darstellte. Das kam erst um die Zeit von Bach & Co. auf. Hier gibt's dann, als Zwischenformen zwischen Mitteltönig und 12tet, noch die sprichwörtlichen »wohltemperierten« Stimmungen, die es erlauben, wolfsfrei durch den ganzen Zirkel zu modulieren, in denen die Tonarten aber immer noch ihren je eigenen Charakter haben. Ein C-Dur ist da deutlich reiner als ein Gb-Dur. Sodass man letzteres zwar durchaus mal bringen kann (es ist immerhin spielbar), faktisch es sich aber eher als Special FX aufhebt. Bachs »wohltemperiertes Klavier« ist letztlich der Demo-Song zu diesem Stimm-Paradigma (von dem es in der Praxis zig verschiedene Realisierungen gab und auch immer wieder neue gibt).
Das heißt für deine Frage: die Bevorzugung bestimmter Tonarten ist untrennbar von den unterschiedlichen Reinheitsgraden, die die verschiedenen Tonarten immer haben werden, solange das Instrument (gemeint ist immer: Instrument mit fester Intonation! Klavier, Cembalo, Gitarre...) nicht nach der seit ~1900 allgegenwärtigen gleichstufigen Stimmung gestimmt ist.
Abb.: eine von endlos vielen denkbaren Mitteltönigen Stimmungen. Nähe eines Punktes zum Zentrum symbolisiert Reinheit des Intervalls. 11 von 12 Quinten (gelbe Punkte) von 702 auf 696cent verkleinert, d.h. ›schlechter‹ als in 12tet (grüngestrichelte Linie). Gut zu sehen: acht perfekt reine Durterzen (rot, im Mittelpunkt) und neun ziemlich gute Mollterzen (blau). Restliche Terzen weit außerhalb des Zumutbaren (lila Linie = Reinheit der Terzen in pythagoräischer Stimmung).