Re: Skurril armenischer ms2000
hab' das jetzt nicht genau analysiert, aber vom Schiff aus gesehen ist da - wie von snowcrash erwähnt - eine nicht-wohltemperierte Stimmungen gespielt worden. Ein Gebiet, mit dem ich mich auf elektronischer Ebene noch nicht sehr lange befasse, aber durch meinen Hang zur traditionellen Volksmusik, besonders aus dem Balkan, schon länger nachhänge. Ein ungemein spannendes Gebiet, das erstaunlicherweise recht schwierig umzusetzen ist mit Elektronik. FM8, Diva, und Samplemodeling Clarinet haben Microtuning, doch die aufeinander zu stimmen ist alles andere als einfach. Gibt natürlich noch mehr virtuelle Instrumente die das können, aber keine Norm bzw. kein einheitliches, austauschbares Format.
Es müssen nicht Vierteltöne sein, vor allem wenn man eine Standardtastatur verwendet, es ist die nicht-wohltemperierte Stimmung, die einem Keyboardspieler diese Möglichkeiten schenkt. Es ist aber zu begrüssen, dass offenbar der MS2000 das drauf hat. Wusste ich nicht, aber ich bin eh kein Keyboarder. Womöglich ist das bei vielen Performance-Keyboards der Fall, Yamaha, Roland, Korg, und so.
Ich kenne nur Software, und da ist es wie gesagt relativ schwierig. Schade eigentlich, fast ein Armutszeugnis, denn im Prinzip wäre das total einfach zu bewerkstelligen. Mit Blas- und Saiteninstrumenten ist das ein ernsthaftes Problem, da ist man recht limitiert. Auch im klassischen/orchestralen Bereich. Und dennoch wird nichtwohltemperierte Musik nach wie vor auf akustischen Instrumenten gespielt, da wo es prinzipiell schwieriger ist. Auf Softwareebene interessiert sich kaum jemand dafür, höchstens im Bereich von Performancekeyboards, was ja eigentlich dem Hardwarebereich angehört.
Für mich ist dieses Thema noch ein beinah unbetretenes Terrain. Einerseits wegen dem mangelndem Interesse von Herstellerseite her (Microtuning für Softsynths ist immer noch etwas Exklusives, ein Extrafeature, in DAWs sozusagen inexistent), andererseits wegen dem fehlenden Interesse der elektronischen Musiker. Alle reden über Sync und Samples, MIDI Clock und Velocity, doch niemand scheint sich mit dem Wesen der Musik auseinanderzusetzen. Das ist nicht als Vorwurf zu verstehen notabene, denn die Industrie bläst ins gleiche Horn. Wir werden mit Unmengen von Informationen zugedeckt, sodass wir eine Sample-Library mit 15 GB besser einstufen als eine mit 3 GB, bevor wir überhaupt die eigentlichen Samples angehört haben. Es gibt so viel Zeugs, dass wir den Überblick verlieren, und nur noch auf Zahlen achten.
Ich hatte das Glück, an einigen Konzerten beizuwohnen, wo traditionelle Musik gespielt wurde. Aus dem Balkan, aus Indien, aus Afghanistan, aus Australien, das hat mich praktisch immer aus meinem 4/4/clock/sync-Gefüge herausgerissen. Und zwar gewaltig. Ich erlebte da Sachen, sah Bilder, die ich bei Konzerten/Parties in düsteren Kellern nicht erlebt hatte. Gut, Dead Can Dance oder Test Dept. oder Virgin Prunes brachten mich in eine ähnliche Richtung, aber ich musste realisieren, dass diese damals als neu empfundenen Töne gar nicht so neu sind; sie fussen in etwas völlig Archaischem: der Volksmusik.
Ich erlaube mir einen kleinen Exkurs. Volksmusik oder traditionelle Musik entspricht nicht genau dem, was wir heute darunter verstehen. Was man heute unter dem Begriff versteht würde ich bestenfalls als Unterhaltungsmusik klassifizieren. Das hat mit traditioneller Volksmusik nur wenig zu tun.
Beispiel Schweiz: den traditionellen "Ländler" (ein unterhaltsames, aber belangloses Gedudel mit Klarinette, Kontrabass, und Schwyzerörgeli) existiert erst seit den 50er Jahren. Das letzgenannte Instrument existiert erst seit Mitte 19. Jahrhundert. Das berühmte Alphorn war ursprünglich eher ein Signalhorn (Alarm, al arme, zu den Waffen), und ist logischerweise bei anderen Bergvölkern (z.B. Tibet) auch anzutreffen, wenn auch weniger bekannt und in noch mehr funktionaler/ritueller Form. Ungemein erstaunlich, wie auf einem langen Holzrohr ohne Ventile oder Klappen tonal gespielt werden kann. Es kann deshalb nur die Naturtonreihe gespielt werden. Es ist anzunehmen, dass solche Hörner schon sehr lange angefertigt und gebraucht wurden. Und da Holz fast einfacher ist in der Herstellung, könnte man sogar mutmassen, dass sie lange vor der Broncezeit zum Einsatz kamen. Aber das nur so nebenbei.
Die primale Volksmusik besteht vermutlich aus polyphonem Gesang und Perkussionsinstrumenten. Da gibt es noch Überreste, wobei ich hier auf die Ethnologie verweisen muss, ich habe das weder studiert noch genauer erforscht. WIYF, Wikipedia is your friend.
Wesentlich ist, dass diese primalen und archaischen Rhythmen umd Tonreihen (Skalen) an Relevanz oder Wichtigkeit nichts eingebüsst haben. J.S. Bach hat die wohltemperierte Skala aus pragmatischen Gründen definiert, und ich beuge mich vor diesem hervorragenden harmonikal denkenden Musikgenie. Wenn man Blas- und Saiteninstrumente zusammenbringen will in einem Orchester (ein Novum damals), dann hat er den einzig richtigen Schritt getan, das war (und ist) absolut notwendig.
Jetzt ein (eigentlich) krasser Wechsel zur polynesischen Kultur (die ich als Europäer gar nicht kennen kann). Da gibt es "nur" sieben oder acht Töne in der Skala, weil deren Perkussionsinstrumente nicht mehr hergeben. Aus der Sicht okzidentaler Musikexperten eine total primitive Tonskala, belächelt, ignoriert. Dass man mit sieben, acht, oder neun Tönen eine ungemein fesselnde und treibende Musik machen kann ist den meisten okzidentalen Experten komplett entgangen. Wendy Carlos ist eine der wenigen, vielleicht sogar die einzige Vertreterin der westlichen Musik, die dieses Potential erkannt umd sogar umgesetzt hat. "The Beauty And The Beast" von 1986 ist meiner Meinung nach ein epochales
Werk elektronischer Musik und westlicher Musik allgemein, da der Kern und die Musik an sich ernstgenommen wird. "Switch On Bach" war natürlich auch epochal, aber "The Beauty And The Beast" geht da noch viel weiter in Tonalität und Musik. Da muss man sich erst mal reinhören und verdauen/verstehen was da alles abläuft. Ich befinde mich immer noch im Verdauungsprozess, auch nach mehreren Jahren Kenntnis dieses grandiosen Werkes.
Microtuning ist das Stichwort. Im Alltag, das muss ich zugeben, spielt das keine Rolle; ich kümmere mich um Sync und Samples, MIDI Clock und Velocity, IP Adressen und Impulse Responses. Aber wenn man ernsthaft Musik macht, sollte das eine Rolle spielen; es sollte die Grundlage sein für das Musizieren. Doch ich bin im Alltag viel zu abgelenkt um mich um das Wesentliche der Musik zu kümmern. Selbst wenn ich mich aufraffe und mich mit anderen Elektronikmusikern auszutauschen versuche (und damit ist nicht nur dieses Forum gemeint, ich habe da noch viele andere Verbindungen), blicke ich in eine gähnende Leere. Microtuning, so simpel es im Prinzip wäre auf elektronischer Ebene, viel viel einfacher als mit akustischen Instrumenten, wird im Okzident noch ignoriert, derweil es im Orient nie vergessen wurde. Sie hatten weder Händel noch Bach, noch Cembalos noch Klaviere, die zwangsläufig in eine temperierte Skala führen müssen. Überflüssig zu sagen, dass weder das eine noch das andere besser sei; aber dem Elektronikmusiker sollten alle Türen der Musik offen sein, nicht nur die Tür des modernen Okzidents. Denn sobald wir die archaische Ebene okzidentalem Musiktums betreten, begegnen wir dem, was im Orient immer noch blüht und gepflegt wird. Polyphoner Gesang ist die Wurzel jeglicher Volksmusik, die im Okzident durch die hohe Kultur der klassischen Musik etwas vergessen wurde. Es war darum nicht erstaunlich, dass Exponenten wie Debussy, Strawinski, Stockhausen, und vielleicht auch Carlos und Cage, die westliche Musikszene brüskiert und erneuert haben (hier könnte ein Musikkenner trefflichere Beispiele und Formulierungen anfügen). Avantgarde heisst nicht zwingend neue Territorien erkunden, das kann auch ein Rückblick auf das Wesentliche sein, das der Moderne abhanden gekommen ist durch Verführungen der Wirtschaft und Technik. Schöner Satz, den darf man getrost zweimal lesen.
Es gibt glücklicherweise viele Software, die Microtuning ermöglichen. Nicht massenweise, schon gar nicht Mainstream, aber erhältlich. Wendy Carlos hatte einen speziellen in kleiner Stückzahl gefertigten Synthesiser zur Verfügung für "The Beauty And The Beast", heute könnte sie das mit einem FM8-Plugin bewerkstelligen. Das ist im Grunde genommen nichts anderes als ein Aufruf an alle echten Musiker, sich von den Limitierungen und Regeln der elektronischen "Kunst" loszulösen und sich ernsthaft mit Musik zu beschäftigen. So wie dieser fingerfertige Albaner im Video.