Situation des Handwerks (Kriterien der punktuellen Musik)
(Paris 1952, unveröffentlicht)
Die Vermittlung kompositorischen Handwerks ist zur Zeit ungenügend. Lehrende Komponisten berufen sich auf persönliche Abwandlungen traditioneller handwerklicher Methoden.
Daß voneinander unabhängige private Bemühungen um kompositorisches Handwerk ohne Anleitung von Lehrern in der jüngsten musikalischen Entwicklung zu einem >Stil< geführt haben, erlaubt es, von einer neuen Situation des Handwerks zu sprechen. Die historische Orientierung dieses neuen Denkens geht auf die letzte Wiener Schule mit ihrem konsequentesten Vertreter Anton von Webern zurück.
Ein verbreitetes Mißverständnis spricht Werke dieser jüngsten europäischen Komponistengruppe, die jenen gemeinsamen Stil gefunden hat, als Experimente an. In Wahrheit widerspricht ihr Werk total dem Experiment, dem Unabgeschlossenen, Improvisatorischen. Experimentelle Musik und durchgeordnete Musik, die hier gemeint ist, sind äußerste Gegensätze (wenn man Tonexperimente überhaupt als musikalische Kunstprodukte bezeichnen kann).
Die durchgeordnete Musik ruft heute allgemein Untergangsangst hervor, wo sie ernst genommen wird. Angstschreie vom >Ende der Musik<, der Kunst überhaupt, werden nicht eher schweigen, bis deren Schreier zu Ende gegangen sind. Unsere Situation des musikalischen Handwerks ist alles andere als beängstigend.
Musik wird heute in Wunschkonzerten konsumiert. Das Hören ist ein Hören nach Wunsch geworden. Eine Musik ohne Inhalte, auf die sich menschliches Wünschen richten könnte (man wünscht sich ja nicht irgend etwas, sondern bestimmtes), wird ungehört bleiben, bis sich das Wunsch-Hören zum meditativen Hören wendet. Dieses ist ein mögliches Ergebnis von Selbstdisziplin.
Man kann an dem Wesen der jüngsten Musik erkennen, daß sich eine Umorientierung von, Wunsch-Hören zum meditativen Hören vollziehen wird, einbezogen in die allgemein geistige Wandlung vom überspitzt Individualistischen zum Persönlich-Kollektiven.
Es gibt Gedanken über Musik und musikalisches Denken. Gedanken über Musik sind absichtsvoll: sie sehen von der Musik ab. Sie basieren auf Assoziationen. Assoziationen haben im musikalischen Handwerk nichts zu suchen. Es geht um Hinsicht, nicht um Ab-Sicht.
Musik als Tonordnung richtet sich auf die menschliche Fähigkeit, Ordnung von Tönen wahrzunehmen. Wahrnehmen ist hier verstanden als: darin existieren und aushalten ohne Absicht. Dabei ist musikalisches Mit-Denken angeregt. Mit Ordnung ist gemeint: Das Aufgehen des Einzelnen im Ganzen, des Verschiedenen im Einheitlichen. Kriterien für Ordnung sind Beziehungsreichtum und Widerspruchslosigkeit. Ziel des Ordnens ist die Annäherung an die denkbare Vollkommenheit von Ordnung im allgemeinen und im besonderen. Eine Vorstellung von Ordnung löst im Handwerker ordnende Prinzipien aus. Im Vor-Stellen ist die Sicht einer Einheitlichkeit vorausgesetzt, die das Verschiedene auf sich zu beziehen imstande ist. Totale Vorstellung ist demnach Voraussetzung, Einzelnes aus einem Ganzen in Ordnung hervorgehen zu lassen.
In einer totalen Ordnung ist alles Einzelne gleichberechtigt. Die Sinnhaftigkeit einer Ordnung gründet in der Widerspruchslosigkeit zwischen Einzelnem und dem Ganzen.
Tonordnung meint also die Unterordnung von Tönen unter ein einheitliches Prinzip, das vorgestellt ist. Und: Widerspruchslosigkeit zwischen der Ordnung im Einzelnen und im Ganzen.
Eine vorgestellte Ton-Ordnung ist auch Einfall, >Zu-Fall< oder > Musikalische Idee< genannt worden.
Handwerk hat es mit Vermittlung und Ausbildung von Fähigkeiten zu tun, eine Vorstellung in effektive Ordnung umzusetzen. Geordnet wird das Material - in unserem Fall die Töne.
Mehr oder weniger große Widerspruchslosigkeit zwischen Vorstellung und Materialordnung sind Kriterien zur Beurteilung handwerklichen Könnens. Handwerkliches Vermitteln wird demnach sinnvoll in der Mitteilung von Möglichkeiten, Einzelnes in ein Ganzes einzuordnen; nicht aber, Einzelnes für sich herstellen zu können. Andererseits ist es offenbar, daß musikalisches Handwerk nichts mit dem >Erfinden< von Musik zu tun hat.
Die Vorstellung einer Musik als Vor-Stellung von Ordnung überhaupt ist durch Einmaligkeit ausgezeichnet (Ein-Fall), also auch jede Materialordnung, die von einer solchen Vor-Stellung mit dem Ziel von Widerspruchslosigkeit ausgeht.
Komponieren wurde lange als bloßes Zusammenstellen verstanden. Das >Zusammen< reicht als Bestimmung nicht aus (ganz abgesehen von >Komponisten<, die lediglich auseinanderstellten und -stellen). >Organisieren< trifft eher den Bezug zwischen Vorstellung und Materialordnung.
Das Hervorgehen des Einzelnen aus einem Ganzen schließt die Wahl von Material, das bereits vorgeformt - vorgeordnet - ist, aus.
Versteht man unter >Improvisation< das geschickte Reagieren auf unvorhergesehene Einzelheiten in der Weise einer Arrangiertechnik, so haben wir es beim Improvisieren mit Tönen, das auf solche Weise geschieht, nicht mit Tonordnung, sondern mit einer Sammlung von Tönen und Tongruppen zu tun.
Bereits vorhandene Tonordnungen (Tonsysteme, Themen, Motive, Reihen, >Rhythmen<, Folklorismen u. a.) sind gleich improvisatorischen Einzelheiten unbrauchbar (als bereits in einer jedem Einzelnen eigenen Weise geordnet), unbrauchbar für die Verwirklichung einer einheitlichen Vorstellung von Musik, die ja erst eine ihr gemäße Materialordnung hervorrufen kann, nachdem sie im Einfall vor-gestellt ist, und die sich mit einem Anspruch von Totalität (in Hinsicht auf Vollkommenheit von Ordnung) in jedem Werk neu und einmalig vollziehen soll - ,wenn mau die Notwendigkeit totaler Ordnung einsieht und akzeptiert.
Vorgeformtes kann nicht eingeordnet, nur arrangiert werden. Ein-Ordnung aber ist eine Bedingung für Widerspruchslosigkeit. In den Bereich des organisatorischen Handwerks gehören also auch nicht Betrachtungen über bereits Vorgeformtes. Das Zusammenstellen von Verschiedenem, jedes in seiner Weise bereits Vorgeordnetem, genügt nicht.
Das Einzelne ist der Ton mit seinen vier Dimensionen: Dauer, Stärke, Höhe, Farbe. Das Komponieren, von der handwerklichen Fähigkeit geleitet, Töne zu ordnen, hat also schon in jeder dieser Dimensionen anzusetzen, um Widerspruchslosigkeit zu erreichen. Im Unterordnen versucht man, die einzelnen unteren Ordnungsprinzipien (sowohl untereinander, wie zum Übergeordneten hin) aus der Idee abzuleiten. Die dazu notwendige Fähigkeit nannte ich handwerkliches Können. Die Unfähigkeit zu solchem Tun nenne ich Dilettantismus. Die Verwandtschaft zwischen Letzterem und der Improvisation, dem Arbeiten mit vorgeformtem Material, wird deutlich.
In der traditionellen Musik und solcher, die gegenwärtig >der Tradition verpflichtet< ist, wurde und wird Vorgeformtes (vom Motiv über das Thema zur Reihe) als kleinste Einheit betrachtet und akzeptiert. Die heutige Einsicht aber in die inneren Beziehungen der Töne deckt den Widerspruch auf zwischen individuellen Ordnungen des Vorgeformten und der Notwendigkeit, integrale Ordnung aus einer einheitlichen Vorstellung abzuleiten. Der Idee eines Werkes kann nicht schon die Wahl von Vorformen vorausgehen, die diese Idee widerspruchslos verkörpern sollen.
Die Zurückführung der Musik in eine absichtslose Ordnung von Tönen (als Hinsicht auf die jeweilige Vorstellung verstanden), wie sie in jüngster Zeit begonnen hat, ist mit der Notwendigkeit verbunden, Vorgeformtes in seiner Widerspruchhaftigkeit zu erkennen und nicht länger zu akzeptieren.
Der ordnende Geist setzt also beim einzelnen Ton an, das heißt, er ordnet Töne einer einheitlichen Gesamtvorstellung von Tonordnung unter, indem er Töne aus der Idee hervorgehen läßt. Töne existieren demnach in einer >totalen< Musik als notwendige Folge des immanenten Ordnungsprinzips, das aus der Idee abgeleitet ist. Ordnungsprinzipien traditionellen Handwerks sind daraufhin zu prüfen, inwieweit sie heute noch brauchbar sind.
Musikalische >Variation< setzt eine vorgeformte Gestalt voraus, die verändert wird. Diese Gestalt trägt einen ihr eigenen fixierten Ordnungscharakter von Tönen. Sie ist fertig, nicht notwendig als Resultat aus einer Idee für eine bestimmte Tonordnung hervorgegangen, die allgemeiner und in der sie ein ebenso untergeordnetes Einzelnes wäre, wie jeder andere Ton im >Variationswerk<, das vorgestellt ist. In der >Variation< geht es aber nicht um das zu Variierende (oder nur mittelbar), sondern um das Variieren: Nicht das zu Variierende existiert, sondern Weisen des Variierens eines sich einmal Gesetzten existieren aus einer Vorstellung von Ordnung, die Gleiches in verschiedenem Licht sieht. Es begegnet uns in >Varianten< ein Nebeneinander von individualisierten Tonordnungen. Einheitlichkeit soll durch ständige Anwesenheit des Variierten gestiftet werden. Dieses aber existiert nicht als Folge einer einheitlichen Vorstellung, die zu einer totalen Tonordnung führt, da sich ja Vorstellung auf Versprengtheit, auf ein Nebeneinander von verschiedenen einzelnen Varianten richtet.
In der Voraussetzungslosigkeit des Variierten und der Vielheit der nebeneinandergestellten Varianten begegnet uns der Widerspruch zur >totalen < Tonordnung.
In einem Werk mit 7 Variationen haben wir es mit 7 Musikstücken zu tun. Alle Stücke (und hier können wir auch >Transpositionen<, >Spiegelungen<, >Umkehrungcn<, >Imitationen<, >Vergrößerungen <, > Verkleinerungen< etc. mit einbeziehen) sind zwar aus demselben abgeleitet, aber es entfällt im Nebeneinander der notwendige Bezug. Das liegt bereits im >Verändern<, im bloßen Anderssein der Varianten untereinander. Gefordert ist aber einheitliche Bezogenheit des Einzeh1en, vor dessen Entstehung also vor allem der einzelnen Variationsweisen (-ordnungen), auf umfassende Vorstellung. Das, was aber Einheitlichkeit stiftet, das Variierte, ist nicht nur für dieses Werk und nur für dieses abgeleitet aus einer ihm vorausgegangenen Vorstellung von Ton-ordnung. Es fehlt der notwendige Bezug der Einzelordnungen: untereinander (>Variationen<) und zu einem Übergeordneten totalen Prinzip. Der eigentliche Bruch ist zwischen dem Variierten und der Vorstellung (zwischen einem definierten Objekt und Subjekt - statt die dualistische Objekt-Subjekt-Opposition fallen zu lassen).
> Variation< offenbart sich als typische Formvorstellung gespaltener Einzelvorgänge, wobei Einheit Stiftendes nur insoweit befragt wird, als es überhaupt Einheitlichkeit der Erscheinung hervorrufen kann, nicht aber, inwieweit es selbst wiederum aus einer Vorstellung von Ordnung, aus einem zum Generieren widerspruchsloser Organisation befähigten Einfall abgeleitet ist.
> Durchführung< als Vorstellung von Entwicklung in der Zeit zielt auf Fortschritt. Etwas wird durch Einzelstadien auf ein Ziel hin geführt (in Reprisenformen von sich selbst weg und wieder zu sich hin). In Entwicklung und Durchführung ist also der Blick immer auf das gerichtet, was das einzelne Anwesende noch nicht ist oder schon war (Ab-Sicht).
Annäherung an Vollkommenheit von Materialordnung meint aber ständige Anwesenheit des Einen. Um auf Einzelnes in einer Entwicklung hinsehn zu können, muß man ständig von ihm absehn, um auf das zu achten, was es noch nicht ist oder schon war: Wieder begegnen uns disparate Einzelstadien von Ordnungszuständen.
Ständige Anwesenheit von durchgeordneter Musik, die keine >Entwicklung< darstellt, kann allein den Zustand meditativen Hörens (von dem zu Beginn gesprochen wurde) hervorrufen: Man hält sich in der Musik auf, man bedarf nicht des Voraufgegangenen oder Folgenden, um das einzelne Anwesende (den einzelnen Ton) wahrzunehmen. Voraussetzung ist allerdings, daß das Einzelne bereits alle Ordnungskriterien in sich trägt - und zwar widerspruchslos -, die dem ganzen Werk zu eigen sind.
Es erübrigt sich jetzt, Widersprüche zum hier erläuterten Ordnungsprinzip in >Suiten<, Überhaupt >mehrsätzigen< musikalischen Produkten aufzuzeigen. Was zu >Variation< und >Durchführung< gesagt wurde, kann für alle anderen Erzeugnisse musikalischen Handwerks vom gleichen Standort aus geprüft werden.
Die Tatsache allein, daß mehrere Jahrhunderte hindurch im gleichen >vorgeformten< Tonsystem Musik gemacht wurde, zeigt genügend deutlich, wie sehr sich das Ordnen von Tönen in unserer Situation des Handwerks vom traditionellen Handwerk unterscheidet. Damit ist nicht etwa nur das Dur-MollSystem oder vorausgegangene Modalität gemeint, sondern darüber hinaus das zwölftönig-chromatische Tonsystem. Es läßt sich weitergehend denken, daß die vollkommene Vorstellung einer Tonordnung in der Idee für ein Werk eine ihr allein zugeordnete Organisation der Töne (als einzelne, und untereinander) hervorruft, die nur hier und nirgendwo anders ihren Sinn erfüllt.
Zur >Ordnung des Tones in sich< muß abschließend noch etwas gesagt werden. Ich sprach von 4 Dimensionen, die im Zusammenwirken einen Ton ausmachen. >Ordnen von Tönen< heißt also: Ableiten der Ordnungsprinzipien für diese Dimensionen, wobei jedes Ordnungsprinzip als einzelnes auf die anderen drei nach einem für alle vier gültigen übergeordneten Prinzip bezogen ist. Das übergeordnete ist wiederum aus der geistigen Gesamtvorstellung einer allgemeinen Ordnung, die in spezielle Tonordnung umgesetzt wird, abgeleitet.
Im Zusammenwirken der Ordnungsprinzipien für Dauern, Höhen, Stärkegrade und Klangfarben entstehen erst die Töne. Hier wird deutlich, daß Vorstellung von Ordnung zunächst noch gar nichts mit klanglicher Vorstellung von >fertigen< Tönen zu tun hat, da diese Resultat von ineinanderwirkenden Ordnungsregeln sind. Der Komponist erlebt das Entstehen von Musik. Sie entsteht vor ihm, er entreißt sie sich nicht mehr.
Wie weit eine Vorstellung von Ordnung in musikalische Ordnung umgesetzt werden kann, muß vom Handwerker bei jeder ihm einfallenden Idee erst geprüft werden. Hier entscheidet es sich, ob er die jeweilige Idee annehmen kann, oder nicht.
Die Ablehnung auch von vorgeformten Tönen gründet in folgender Überlegung. Eine totale Vorstellung läßt unter anderem ein bestimmtes Ordnungsprinzip für die Zusammensetzungsfaktoren der Klangfarbe existieren. Diese Faktoren machen die Klangfarbe für jeden entstehenden Ton aus (Ordnung der Teiltöne etc.). Ein Klarinettenton bringt naturgemäß eine bestimmte Ordnung seiner Klangfarbenfaktoren mit. Darüber hinaus zeichnet er sich durch typische Zeitveränderungen der Konstellation seiner Klangfarbenfaktoren gerade als Klarinettenton aus (abgesehen von Raumverhältnissen, Nachhallbedingungen, Entfernung des Hörenden etc.). Im voraussetzungslosen Sich-Bedienen eines solchen Tones, der auf bestimmte Weise (>instrumental<) erzeugt- geordnet-ist, kommt Widerspruch zur geforderten Ableitung aus einer Werk-Idee zutage.
Außerdem liegt ja ständiger Widerspruch zur komponierbaren Ordnung in der unvorherzusehenden Veränderung der Zusammensetzungsfaktoren von Tönen durch den Spieler, den Hervorbringer des Klarinettentones, der ständigen unkontrollierten Änderungen unterworfen ist. Wie sehr die Unzulänglichkeit von >Interpretation< von diesem Standpunkt aus gesehen werden kann, sei hier nur angedeutet. Es begegnet uns der Widerspruch solcher Töne zu der Forderung, daß Töne erst aus der immanenten Anwesenheit einer einmalig für ein Werk X gültigen Vorstellung und Materialordnung existieren sollen. Das gilt sowohl für alle >natürlichen< Klänge, wie auch für auf Tonband aufgenommene und technisch manipulierte.
Es ergibt sich die Konsequenz, daß für ein Werk X allein Töne existieren, die den Ordnungscharakter X tragen und nur als solche und allein in diesem Werk ihren Sinn haben.
Dieses ordnende Denken ins Material hinein und die Vermeidung der >natürlichen< Eigenwilligkeit des Materials wird vielleicht durch elektronische Klangerzeugung in Zukunft möglich gemacht.
Wie weit im einzelnen bereits Methoden erarbeitet sind, in unserer Situation des Handwerks >Punktuelle Musik< zu komponieren, wird an anderer Stelle zu berichten sein.
Karlheinz Stockhausen, Texte zur Musik, Band 1