Holger Bonus / Dieter Ronte
„DIE WA(H)RE KUNST“
Markt – Kultur – Illusion
Schäffer Poeschel
ISBN 3-7910-1202-9
zur Zeit vergriffen
I. Wertgrenzen und Konventionswechsel
1. Aufstieg eines Künstlers
Unfall. Zwei Autos deformieren sich bis zur Unkenntlichkeit. Die Prestigekarossen haben nur noch Schrottwert und sind lediglich ein Verkehrshindernis, das es zu beseitigen gilt. Das gestylte Design hat bizarre Formen angenommen, die unserer Vorstellung von einem Auto nicht mehr entsprechen. Beim Zusammenprall haben große Energien gewalttätig aufeinander eingewirkt; wie Versteinerungen bezeugen die Reste einen abrupten Übergang in den Zustand der Funktionslosigkeit. Totalschaden.
Den Abschleppwagen fährt ein armer, unbekannter Künstler nennen wir ihn Edwin Schrotter -, der seine Familie ernähren muß. Er bringt die Wrackteile jedoch nicht zur Schrottpresse, sondern in sein Atelier. Nicht um die Funktionsfähigkeit wiederherzustellen, sondern um aus dem Dokument der Zerstörung einen ästhetischen und möglichst auch kommerziellen Gewinn zu erzielen. Schrotter verwandelt die Wrackteile in ein Mahnmal, indem er sie positioniert, also bewußt setzt, und signiert. Es gelingt ihm, diese Skulptur an das Museum für Moderne Kunst zu verkaufen. Hier wird sie bewundert und sogleich heftig diskutiert. Was ist geschehen?
Zwei funktionstüchtige Automobile zum Marktpreis von je 50.000 DM reduzieren sich im Wert innerhalb von Sekundenbruchteilen auf praktisch Null. Durch die Signatur und Vision des Künstlers wird aus der wertlosen Materie ein Kunsthandelsobjekt im Wert von etwa 35.000 DM. Schrotter erstellt mehr Autoskulpturen und wird mit der Zeit berühmt. Auf unkonventionelle Weise zeigt er drastisch Probleme unserer Zeit auf: Mobilität, Geschwindigkeit, Technik - und die katastrophalen Folgen schon eines geringfügigen menschlichen Versagens. Zwanzig Jahre nach dem Chaos auf der Straße hat das Kunstwerk im Museum einen Marktwert von 250.000 DM. Kommerziell gesehen war es also ein Glücksfall, daß der Künstler einen Nebenjob ausüben mußte. Inzwischen läßt er sich die Wrackteile bringen, nicht alle kann er verwenden. Wrack ist nicht gleich Wrack. Nehmen wir aber seine erste Autoskulptur aus dem Museum heraus und stellen sie ohne Sockel nur fünfzig Meter weiter an den Straßenrand, so hat sie wieder den gleichen Nullwert wie nach dem Unfall; die zum Museum eilenden Passanten fühlen sich durch das Wrack - immerhin ein echter Schrotter - belästigt und rufen die öffentliche Hand auf, diesen Schandfleck zu beseitigen. Er ist unschön und blockiert einen Parkplatz. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß wieder ein Künstler vorbeikommt und erneut signiert.
Ein Skandal? Keineswegs. Es sind nur fortwährend Konventionen gebrochen worden. Die Autos hätten nicht kollidieren dürfen; die Wrackteile gehörten eigentlich in die Schrottpresse;
der Künstler benimmt sich ungewöhnlich, weil er anders sieht:
durch seine Signatur überhöht er das deformierte Blech; die Museumsverantwortlichen bezahlen für den Schrott einen hohen Preis; das Museum garantiert dem bisherigen Abfall öffentliche Aufmerksamkeit; die Besucher lernen besser zu verstehen; neue Sehweisen bauen sich auf; aus dem Nichts entstehen hohe Werte.
Erst der Ignorant durchbricht diese Kette von Wert-Formungen, indem er die Skulptur auf die Straße stellt. Die schützende Wertsphäre des Museums wird verlassen, das Wrack in die Unfallsituation zurücktransportiert und alsbald der dort üblichen Beseitigungsprozedur unterworfen. Kurz gesagt sind wiederholt Wertsphären gewechselt worden, was jedes mal mit einer Grenzüberschreitung, mit einem Konventionswechsel verbunden war.
2. Wertkonventionen und Institutionen
Wir stehen unserer Umwelt nicht gleichgültig gegenüber, sondern bewerten sie, wobei wir Konventionen folgen, den Wertkonventionen. So finden wir Abfall auf der Straße störend, ein gepflegtes Rosenbeet auf der Verkehrsinsel hingegen angenehm.
Unkraut am Straßenrand wird ausgemerzt. Ein Auto gehört regelmäßig gewaschen, der Rasen geschoren, die Hose gebügelt, vor das Fenster gehören saubere Gardinen, das Messer liegt bei Tisch rechts, die Gabel links. Wir legen Wert darauf, daß solchen Konventionen entsprochen wird, und Verstöße dagegen sind eine Belästigung. Wertkonventionen können sich mit der Zeit ändern:
Bis vor kurzem war es verpönt, Kartoffeln bei Tisch mit dem Messer zu schneiden, und das Unkraut am Straßenrand erfährt derzeit als Biotop ungeahnte Aufwertung. Wir sehen dasselbe Grün heute mit anderen Augen als früher, unsere „Sehkonvention“ ist in dieser Hinsicht eine andere geworden.
Konventionen bilden sich allmählich heraus, sie ordnen das Zusammenleben vieler verschiedener Menschen. Oft sind sie kaum spürbar, gelegentlich aber von großer Härte. Sie sind von verbindlichem Charakter, was nicht ohne Zwänge abgeht. Deswegen ist ein Konventionsbruch grundsätzlich riskant und mit Sanktionen belegt. Als Schrotter die positionierten Wracks signierte und damit zur Kunst erklärte, war das in konventioneller Sicht unerhört; denn es verstieß gegen ein stillschweigendes öffentliches Einverständnis, wonach Schrott als Ergebnis ungeordneter Destruktion keine Kunst sein kann. Diese Konvention war es auch, was den Ignoranten dazu bewog, den Schrott vom Museum auf die Straße zu befördern (von der neuen Sehweise hatte er keine Ahnung): Schrott gehört nicht ins Museum. Auch als die Passanten gegen Schrotters auf die Straße deplazierte Skulptur protestierten, entsprach das guter Konvention: Schrott ist Abfall, und Abfall kann man nicht einfach auf der Straße stehen lassen. Dieselben Passanten hätten dem identischen Blecharrangement im Museum hohen Respekt gezollt: Welche Kühnheit des Sehens! Es war gerade Schrotrers Genie, daß er sein Publikum im verunstalteten Blech das Monument entdecken lehrte.
Wertsphären (wie die des Museums) sind von Wertgrenzen umgeben - im Beispiel von Museumsmauern -, an denen eine bestimmte Wertkonvention endet (hier: die museale) und eine andere beginnt (hier: die der Straße). Das Überschreiten einer solchen Grenze, eine »Transaktion«, bedeutet dann einen Konventionswechsel, und Konventionswechsel sind es im Grunde, wovon dieses Buch handelt. Wertkonventionen und Konventionswechsel gibt es nicht nur in der Kunst, sondern ebenso im Alltagsleben, in Wirtschaft und Politik - ja sogar in der Liebe, wie wir sehen werden.
Konventionen können ungeheuer effizient sein. Im Straßenverkehr muß das Gebot, rechts zu fahren, im Interesse aller unbedingt eingehalten werden; in England entspricht dem das ebenso unbedingte Gebot, links zu fahren. Bezüglich dieser Verabredung ist England eine eigene Wertinsel, und die Überfahrt dorthin erfordert einen Konventionswechsel. Straßenverkehrsunfälle beruhen auf dem Bruch solcher Verabredungen, ob willentlich oder nicht.
Viele Konventionen machen auf den ersten Blick keinen rechten Sinn. Sie werden nicht reflektiert und müssen vorher nicht erdacht worden sein: Wozu soll eigentlich eine Krawatte gut sein, warum geht der Mann links von der Frau, warum trägt die Frau und nicht der Mann ein Kleid? Wertkonventionen wurzeln in der Geschichte einer Region, in ihrer Geographie und Kultur. Sie evolvieren mit der Zeit, weil sie sich bewährt haben und Sicherheit geben. Konventionen sorgen für Kontinuität und stabilisieren so das Leben, auch wenn einige der weitergeführten Traditionen für sich gesehen keine Funktion mehr haben. Welche Bedeutung hat der Handschlag zur Begrüßung? Konventionen sind affirmativ, sie bestätigen, beruhigen, ja vertuschen Unangenehmes, Bedrohliches. Konventionen sind dazu da, Konflikte zu vermeiden oder in geordnete Bahnen zu lenken. Viele Fragen nach einer Bewertung lassen sie gar nicht erst entstehen, weil die Bewertung Konvention ist. Man braucht nicht lange nachzugrübeln, wie man einen Geschäftsbrief beschließen soll, sondern endet konventionell mit freundlichen Grüßen und liegt damit immer richtig. Ein konventioneller Gruß ist freilich unpersönlich und wenig herzlich - aber kann man wirklich zu jedermann persönlich und herzlich sein?
Ein Autowrack auf der Straße gehört weg. Das hat einmal praktische Gründe; aber man will auch nicht ständig an die Katastrophe erinnert werden, die sich an dieser Stelle ereignet hat, vielleicht zum wiederholten Male. Möglicherweise wäre der neueste Unfall gar nicht eingetreten, wenn das Wrack vom vorhergegangenen als Mahnmal eines grauenhaften Geschehens am Ort verblieben wäre. Die Konvention, daß Autowracks wegzuschaffen sind, soll auch beruhigen, sie soll auch suggerieren, daß Autounfälle überhaupt nicht vorkommen: Man kann getrost Gas geben.
Affirmatives verleiht Sicherheit, wo Unsicherheit vielleicht angemessener wäre - aber wer kann ständig in Unsicherheit leben?
Affirmativ ist Schrotters Skulptur keineswegs. Sie hat gerade den gefährlichen Bruch beruhigender Konventionen zum Gegenstand. Ja, sie ist selbst Konventionsbruch, weil sie mit der traditionellen Sehkonvention (»ein gewöhnliches Wrack«) radikal bricht.
Wertkonventionen sind Institutionen. Im Sprachgebrauch verstehen wir darunter normalerweise Behörden, das Parlament, eine Krankenkasse, d.h. so etwas wie ein Haus, in dem Menschen arbeiten und Regelungen anwenden. Die Neue Institutionen Ökonomik versteht den Begriff umfassender. Sie sieht in der Institution einen Satz von Regeln und Normen, die - seien sie förmlich oder informell- mit Sanktionen für den Fall von Verstößen bewehrt sind. In den Augen des Nobelpreisträgers Douglass C. North sind Institutionen wie Spielregeln. Man stelle sich ein Spiel vor, in dem die Regeln ständig geändert würden. Das wäre nicht gut; denn die Spieler würden kaum noch spielen, sondern darüber streiten, welche Regeln gelten sollen. Damit das Spiel fortgehen kann, müssen die Regeln zumindest für die Dauer eines Spiels die gleichen bleiben. Auf die Regeln muß man sich verlassen können; und dazu müssen sie Bestand haben. Zwar werden auch Regeln gelegentlich geändert, aber dieser Vorgang muß erheblich langsamer sein als der eigentliche Spielverlauf.
Die Sprache verdeutlicht, worum es geht. Das Wort »Institution« wurzelt sprachlich im lateinischen instituere, was Aufstellen bedeutet. Eine Statue bleibt stehen, wo sie ist, und zwar für längere Zeit. Gerade das ist ihr Zweck; ein Leuchtturm, der auf den Seekarten verzeichnet ist, darf nicht versetzt werden, weil man sonst den Weg durch die Klippen nicht mehr findet. Institutionen also wandeln sich selten, und dies geschieht in der Regel langsam.
Institutionen prägen sich ein und ermöglichen so Kontinuität, Verläßlichkeit, sei es im Guten oder im Schlechten. Durch ihr verläßliches Stehenbleiben begrenzen Institutionen die Ungewißheit der Welt. Institutionen, die wir nicht beeinflussen, sondern nur hinnehmen können, weil sie langsam evolvieren, nennen wir fundamental, während sekundäre Institutionen bewußt gesetzt sind und jederzeit modifiziert werden können.
Konventionen wie die von Schrotter wiederholt durchbrochenen sind fundamentale Institutionen, man kann sie nicht durch Dekret in die Welt setzen. Zur Konvention werden Regeln erst durch die Gewohnheit, wenn man nicht mehr eigens darüber nachdenkt. Das kann so weit gehen, daß gewisse Dinge nicht einmal mehr gedacht werden können, weil die Weichen durch Konvention automatisch in eine bestimmte Richtung gestellt sind und andere Perspektiven undenkbar erscheinen lassen. Schrotter empfand sich oft als Einzelkämpfer, der wie Don Quichotte gegen ein Heer von Windmühlen ankämpfte. Als Individuum unternahm es, den ewigen Kreislauf fundamentaler Institutionen zu durchbrechen - ein eigentlich unmögliches Unterfangen. Nur das Genie schafft gelegentlich das Unmögliche, erlebt das Gelingen aber manchmal nicht mehr selbst.
3. Private und öffentliche Konventionen
Konventionen müssen nicht unbedingt mehrere Menschen binden: Man kann auch für sich selbst Gewohnheiten entwickeln, so daß eine private Konvention entsteht. Zum Beispiel mag man es sich angewöhnt haben, stets unauffällige Anzüge zu tragen oder grellfarbene Krawatten anzulegen; der eine ist pedantisch und ordnet die Bestecke am Mittagstisch sehr akkurat, während der andere in dieser Hinsicht leger ist und die Wurst aus dem Einwickelpapier verzehrt. Öffentliche Konventionen hingegen werden von mehreren oder vielen geteilt. Eine Konvention kann für eine Gruppe »öffentlich«, d.h. für alle verbindlich sein, in den Augen Außenstehender jedoch als »Privatangelegenheit« der fremden Gruppe gelten. Familie Meyer zum Beispiel ist sauber und pünktlich, sie legt großen Wert auf Ordnung. Wenn irgendwo Staub sichtbar wird, springen die Meyers auf und holen das Staubtuch.
Für Familie Meyer ist diese Familientradition »öffentlich«; sie erstreckt sich aber nicht auf die Müllers von nebenan, die in ihr bloß einen »privaten Tick« der Meyers erblicken.
Bleiben wir für einen Augenblick bei den beiden ungleichen Nachbarn. An der Grundstücksgrenze zwischen ihren Anwesen prallen zwei völlig verschiedene Wertkonventionen aufeinander, was immer wieder zu Ärger führt. Der Meyersche Familienrasen ist wie mit dem Lineal gezogen und stets perfekt geschoren; auf den abgezirkelten Beeten wird keinerlei Unkraut geduldet. Herrn Meyer trifft man oft auf dem Rasen knieend an, aus dem er vorwitzige Pflänzchen und Halme mit der Pinzette herauszupft. Gelegentlich verwendet Meyer sogar die Nagelschere, um das Gras millimetergenau zu trimmen. Das ist nun freilich nicht die Art der Müllers. Wild und natürlich soll ihr Garten sein, den Ausdruck »Unkraut« finden die Müllers absurd. Frau Meyer hält jeden Samstag grüßen Hausputz, was indes ihrer Nachbarin, der Müller, nicht einmal im Traum einfallen würde.
Wenn Herr Meyer früher auf der Terrasse saß, wollte sich keine Zufriedenheit einstellen: Der Blick über den Zaun ließ ihn schaudern! Müller ging es nicht anders, er sah in Meyers Garten die Natur geschändet, ins widernatürliche Korsett gezwängt. Nachdem man sich bereits lautstark über den Zaun hinweg gestritten und später böse Post ausgetauscht, ja einmal sogar Rechtsanwälte eingeschaltet hatte, wurde allen klar: Sichtblenden mußten her.
Ursprünglich war an eine dichte Ligusterhecke gedacht: nur nichts sehen vom anderen! Aber der Plan war zum Scheitern verurteilt; denn Meyer wollte die Hecke linear und oben exakt abschließend. Das konnte Müller nicht akzeptieren, wäre ihm doch auf diese Weise das Meyersche »Korsett« täglich geradezu ins Gesicht gesprungen. Das Ergebnis war eine Mauer zwischen beiden Gärten, auf Meyers Seite adrett und mit geweißten Fugen, bei den Müllers hingegen von Brennesseln und wildem Wein überwuchert, dessen die Mauerkrone überschießende Triebe Meyer nachts heimlich stutzte.
So hatte man denn die Privatheit der familiären Wertsphären einigermaßen gesichert, um den Preis allerdings der Abschottung nach außen. Der liebevoll gestaltete Garten, Manifestation geheiligter Familienwerte, mußte eingerahmt werden, um gestaltbar zu sein: Ohne den Rahmen wäre alles ineinandergeflossen und hätte sich in seiner Wirkung wechselseitig zerstört. Der Rahmen erst, als Abgrenzung zur andersartigen Sehweise, ermöglichte es Meyers wie Müllers, ihre Tradition und private Vision von sich selbst in der als kreativerlebten Gestaltung des eigenen Gartens zum Ausdruck zu bringen und damit ihr kulturelles Selbstbewußtsein öffentlich zu demonstrieren.
Räumliche Abschonungen an den Grenzen zwischen ihren Privatsphären ermöglichen es beiden Familien seither, ihre jeweilige Besonderheit zu kultivieren. Meyers Werte sind für seine Familie streng verbindlich; umso schwerer zu ertragen wäre die krasse Negierung dieser Werte direkt nebenan. Ebenso verletzt die Meyersche Pedanterie alles, was die Müllers als kreatives Chaos in Ehren halten. Ohne räumliche Abschottung ihrer privaten Wertinseln müßten beide Familien deshalb um des lieben Friedens willen ständig Abstriche hinnehmen. Die Konturen ihrer privaten Kultur müßten abgeschliffen werden: Frau Müller müßte dann vielleicht öfters putzen (was ihr durchaus mißfallen würde), während Frau Meyer möglicherweise sogar ihre Putzwut zügeln müßte (worunter wiederum sie selbst zu leiden hätte). Ohne Abgrenzung der Privatsphären gegeneinander wären grenzüberschreitende, »öffentliche« Normen unumgänglich, denen sich die privaten Normen der Meyers wie der Müllers unterzuordnen hätten.
Ein Gut ist nicht in sich wertvoll, sondern weil wir Wert darauf legen. Werte werden von uns an die Dinge herangetragen; sie ändern sich mit uns, was manchmal abrupt geschehen kann. So ging man früher zum Milchmann, um sich in die mitgebrachte Kanne Frischmilch füllen zu lassen. Später geriet das außer Mode, weil es als unhygienisch galt. Milch kam in Flaschen, dann in Schläuchen und schließlich in Kartons. Heute kehrt die Flasche zurück, und eine Renaissance der losen Milch für die Kanne bahnt sich an. Dieses Beispiel steht für viele andere: Unsere Bewertung von Optionen ändert sich mit der Zeit.
Auch im Bereich von Werten sorgen Konventionen für Kontinuität. Wertkonventionen können auf den persönlichen Bereich beschränkt sein, für eine Gruppe gelten oder innerhalb einer Kultur von allgemeiner Verbindlichkeit sein. Überschreiten wir die Grenze zu einer anderen Kultur, kann es böse Überraschungen geben, weil das bei uns Bewährte anderswo einen Konventionsbruch darstellen mag, der nicht ohne Sanktion bleibt. Ein amerikanischer Geschäftsmann, der dem potentiellen Geschäftspartner in ]apan nach bewährter US-Art jovial auf die auf die Schulter haut, wird mit dem Japaner nicht mehr ins Geschäft kommen.
Die Sichtblende zwischen den Anwesen der Meyers und Müllers war nötig, damit sich die entgegengesetzten Wertkonventionen der beiden Familien nicht ins Gehege kamen. Beide Konventionen waren aggressiv, sie überschritten optisch die eigene Grenze und wurden im fremden Bereich zum Feindbild. Die Mauer diente beiden Parteien zum Schutz der eigenen Wertsphäre.
Schnittstellen zwischen den Geltungsbereichen von Wertkonventionen sind prekär und werden deshalb häufig durch sichtbare Grenzen akzentuiert, die markieren, schützen und sichern.
Die Meyers waren pedantisch und hielten an ihren Wertkonventionen starr fest. Darin unterschieden sie sich nicht besonders von den Müllers, die ebenso dickköpfig auf dem Ideal des freien Wachsens bestanden. Da die Bewertung unserer Welt und unseres Weltbildes von Konventionen regiert wird, sind Erstarrungen und Verkrustungen angelegt und kaum zu vermeiden. Damit räumte Schrotter auf:
Wen wundert es, wenn auch das Museum nach außen hin »abgeschottet« ist, damit es sein Besonderes ungestört kultivieren kann? Im Museum soll man sich ganz in die sehr persönliche Sphäre jedes einzelnen Kunstwerks versenken können, nichts soll davon ablenken. Auf der Straße wäre solches Versenken gefährlicher Unsinn. Hier stehen die Wrackteile für Gefahr und grobe Verkehrsbehinderung. Selbst noch innerhalb des Museums wird das einzelne Kunstwerk von anderen Objekten symbolisch isoliert, es wird eingerahmt oder auf einen Sockel gestellt. Damit ist das Werk umgrenzt, und jenseits dieser Grenzen gelten andere Sehkonventionen. Nicht anders als die Umfriedung der Gärten Meyers und Müllers durch eine Mauer läßt die Umrahmung des Bildes erkennen, daß sich hier eine eigene, unverwechselbare Wertsphäre herausgebildet hat, zu deren Eigenheiten der Betrachter erst noch Zugang finden muß. Die Hervorhebung von Schrotters Skulptur durch einen Sockel unterstreicht sinnlich, daß hier nicht die gewöhnliche Sehweise geboten ist. Wie sollen eilige Straßenpassanten die Skulptur noch als Kunstwerk identifizieren, wenn sie sich nicht mehr durch den Standort im Museum und einen Sockel abgrenzt von der Straßenöffentlichkeit?
In Schrotters Atelier ist seine Skulptur reine Privatangelegenheit und Teil von Schrotters persönlicher Sphäre. In der abgegrenzten Sphäre des Museums hingegen ist sie öffentlich; aber jene Öffentlichkeit ist eine andere als die des Wracks auf der Straße, weil andere Wertkonventionen gelten. Auf einer Ausstellung im Ausland steht Schrotters Skulptur nicht nur für die biographische Sphäre des Künstlers, sondern auch für die des Museums und des entsendenden Landes, die zuhause ebenso »öffentlich« sind wie Meyers Wertkonventionen innerhalb der eigenen Familie, während sie im Ausland als fremd und »privat« empfunden werden, ähnlich wie die Meyersche Konvention bei den Müllers.
Da Schrotters Oeuvre im Ausland vielbeachtet wird, greift seine ursprünglich private Sehkonvention sogar auf das Ausland über:
sie wird dort öffentlich und bestimmt zunehmend die Sehkonvention auch des internationalen Publikums. Rund um die Welt kann sie damit fremde biographische Sphären mitbestimmen, die der Betrachter.
4. Sprache und Grammatik
Schrotter sieht in dem gewöhnlichen Wrack eine Metapher der Angst, eine Verdinglichung der latenten Katastrophengefahr, die auf uns allen lastet. Durch seine Skulptur im Museum erfahren die Betrachter viel über ihre eigenen innersten Gefühle, Sehnsüchte und Alpträume, die jetzt aber gestaltet sind. Die Vision des Künstlers ermöglicht dem Publikum Einsichten in sich selbst und seine Zeit. Solche Einsichten können unbequem und sehr unangenehm sein; deshalb die heftige Diskussion.
Auch die Vision des Künstlers muß sich dem Betrachter zunächst erschließen, damit er mehr in der Skulptur sieht als das gewöhnliche Autowrack. Man muß lernen, das Werk richtig zu sehen, um die Qualität von Schrotters zunächst privater Vision zu verstehen. Das Neue folgt einer eigenen, vom Gewohnten abweichenden Grammatik, die erst einmal erkannt werden muß und beherrscht sein will.
Das ist eigentlich ganz normal. Überall müssen wir im Alltag lernen, richtig zu sehen. Wer sich als Autofahrer abends durch die Innenstadt bewegt, wird von Lichtsignalen überschüttet, die er indessen kaum wahrnimmt. Aber eine unscheinbare, kreisrunde Lichtscheibe übersieht er selten: die Verkehrsampel. Aus der Fülle optischer Reize filtert er automatisch Irrelevantes heraus, während er zugleich mit Sorgfalt auf ganz bestimmte, oft scheinbar geringfügige Besonderheiten achtet. Sollte er diese einmal übersehen, kann er unwillentlich Rohmaterial für einen neuen Schrotter liefern. Um zu überleben, muß er das Richtige sehen, also die Menge der Eindrücke sinnvoll voneinander scheiden.
Ohne es zu bemerken, entwickelt er in sich eine dem Verkehr angepaßte Sehkonvention, die automatisch in Kraft tritt, wenn er sich ans Steuer setzt. Im Museum hingegen hat sie keine Gültigkeit.
Die Konvention unserer Sprache ist nicht nur Voraussetzung für Denken und artikuliertes Fühlen. Sie weist auch Wege, denen unser Denken und Fühlen folgt. Um etwas zu verstehen, müssen wir es sprachlich formulieren können. In jeder Sprache gibt es Bereiche, in denen sie zu subtilsten Schattierungen fähig ist, während sie anderswo zur Sprödigkeit neigt. So existiert weder im Englischen noch im Italienischen eine Entsprechung für das deutsche »gemütlich« oder »beschaulich«; auch unser Wort »Heimat« kann nicht treffend ins Englische übertragen werden. Man muß die entsprechenden Gefühlswerte umschreiben, wodurch sie sich verändern. Als Deutschsprachiger kann man manches sehr genau empfinden, das in anderen Sprachen nur vage sagbar ist. Umgekehrt ist ein englisches Wort wie explore nicht wirklich ins Deutsche zu übertragen. In der vokalen Weite des explore kann man sich verlieren, während in unserem erforschen (trotz unterschiedlicher ethymologischen Herkunft) etwas von Forschheit mitschwingt. Auch das Wortgeschlecht prägt Fühlen vor. Es ist ein Unterschied, ob die Sonne weiblich ist wie bei uns oder männlich wie in den romanischen Sprachen, die zudem das sächliche Geschlecht nicht kennen. Für ein italienisches Mutterherz wäre es nicht tragbar, in Söhnen wie Töchtern einfach das Kind zu lieben, also ein Neutrum. Ein gemaltes Stilleben oder stilllife ist in romanischen Sprachen nicht still, sondern tot (natura morta im Italienischen). Die Sprache ist eine mächtige Konvention. Zum Zweck der Präzision existiert innerhalb der Sprache eine weitere Konvention, die der Grammatik. Sie garantiert der Sprache Verbindlichkeit. Grammatik ist nötig, damit ein übermittelter Text vom Hörer ebenso verstanden wird wie vom Sprecher gemeint. Wenn der Sprecher sagt, dies sei ein milder Tag, dann soll ihn der Hörer nicht so verstehen, als herrsche strenger Frost.
Die übermittelten WortSequenzen, die aus der individuellen Sphäre des Sprechers in jene des Hörers dringen, sollen dort möglichst ähnliche Folgerungen und Assoziationen auslösen, wie sie der Sprecher kommunizieren wollte.
Die Grammatik hält sprachliche Optionen von großer Vielfalt bereit, unter denen man auswählen kann, um das Gemeinte möglichst nuancenreich zu transportieren. Hat man unter den sprachlichen Optionen seine Wahl getroffen, so präsentiert die Grammatik eine Norm; und wer diese Norm nicht einhält, macht einen grammatischen Fehler. Die Grammatik ist also eine Institution, die Abweichungen mit Sanktionen belegt. So treffe ich etwa den Freund, aber ich begegne dem Freunde. Man muß sich überlegen, welche der beiden Möglichkeiten dem, was einem vorschwebt, genauer entspricht. Eine falsch angewandte Grammatik macht den Text unsauber, diffus; sie verletzt die Sprachkultur, weil jetzt beim Hörer unkalkulierte Assoziationen geweckt werden, logische und emotionale Querschläger gewissermaßen.
Es ist eben ein Unterschied, ob ich jemandem begegne - da kommt mir ein anderer entgegen -, oder ob ich ihn treffe, so wie ein Pfeil das Ziel trifft. Das eine mal ist da ein Widerpart, mit dem man sich auseinandersetzt; dabei begegnet man sich möglicherweise in einem bestimmten Standpunkt. Das Gegenüber ist jedenfalls ein eigenständiges Subjekt, dem man sich stellen, ja mit dem man sich messen kann. Dafür steht der Dativ. Formulierte man hingegen: »Ich begegne ihm«, so würde er damit zum Objekt, dem eine gewisse Passivität anhaftet und dem man nicht mehr wirklich »begegnen« kann. Andererseits trifft man den Kern eines Problems, der dazu aber nicht aktiv beiträgt. Der Freund also, den man trifft, hat eher den Charakter eines Objektes als jener, dem man begegnet. Das wird durch den Akkusativ abgestützt. Träfe man »dem Freunde«, so würde der aktiv sein und schwer zu »treffen«: Die Aussage wird unförmig.
Aber zugleich teilt die Grammatik das Schicksal aller Konventionen. Sie gibt starre Regeln verbindlich vor und zwängt insoweit die Sprache in ein Korsett. Wer einen Text formuliert, ist von rigiden Normen enger umstellt, als er im Alltag bemerkt.
Dichter leiden unter solchen sprachlichen Zwängen und suchen die Fesseln zu sprengen. Sie werden zum Sprachschöpfer und ändern die Sprache mehr als alle Kommissionen zum Schutz der Sprachen. Spontane Setzungen bleiben indes nicht Dichtern vorbehalten; neue Worte entstehen fortwährend. So kann man sich neuerdings Guten, was vor einem Jahrzehnt anders gesagt und empfunden worden wäre.
Da die Sprache als fundamentale Institution unmerklichen Wandlungen unterliegt, wird sie von einer Kommission der Regierungen im Abstand mehrerer Jahre überprüft. Die Fachleute sollen die Wertbeständigkeit der alten Konventionen examinieren, sie sollen überlegen, ob zwischenzeitlich aufgekommene Neuerungen in die alten Konventionen zu integrieren sind oder leichte Änderungen des Herkömmlichen notwendig werden. Beschließt die Kommission Veränderungen, so werden diese im Duden festgeschrieben und fließen nach und nach in alle Medien ein. Dieser Prozeß wird in der Öffentlichkeit regelmäßig mit Entsetzen verbunden, er stößt auf Ablehnung. Der Untergang der deutschen Sprache und zumeist auch der Kultur des Abendlandes werden beklagt. Würde man aber den Rufern die Bibel in der unveränderten Sprache Luther vorlegen, so hätten sie große Probleme mit dem Lesen.
Niemals läßt sich ein Gegenstand völlig unverändert von einer Person zur nächsten übermitteln, weil jeder Mensch durch eine individuelle und für ihn charakteristische Wertkonvention geprägt ist. Zwischen verschiedenen Menschen gibt es immer Barrieren ganz so wie die Mauer zwischen den Gärten Meyers und Müllers.
Aber bei der Grammatik handelt es sich um evolvierte kulturelle Normen, die innerhalb eines Sprachraums sphärenübergreifend sind, öffentlich; und deshalb kann sich der grammatikalisch Formulierende eines dichten kulturellen Beziehungsgeflechts bedienen, was es ihm ermöglicht, nicht nur dürre Botschaften zu übermitteln, sondern ausgedehnte Erfahrungsfelder anzusprechen und weitreichende Assoziationsketten bei einem Empfänger auszulösen, der denselben kulturellen Hintergrund hat wie er selbst.
Auch das Denken, die Kommunikation mit sich selbst, unterliegt übrigens den grammatischen Regeln; und wer diese nicht genügend verinnerlicht hat, kann auch mit sich selbst nur undeutlich kommunizieren. Schrotter rang deshalb sein Leben lang um äußerste Präzision. Da sich die überlieferte Grammatik seiner Sparte immer wieder als zu eng erwies und gesprengt werden mußte, war er auf Genauigkeit der Kommunikation mit sich selbst absolut angewiesen. Denn in seiner Bedrängnis konnte er auf die Treffsicherheit traditionell gewachsener Normen nicht mehr zurückgreifen. Aussagen ohne Grammatik werden aber willkürlich und unverbindlich. Also mußte Schrotter die von ihm selbst geschaffenen Lücken in der gewachsenen Grammatik durch neue grammatische Elemente wieder schließen, um überhaupt etwas Treffendes sagen zu können. Jedesmal hinterließ die entwertere Grammatik ein Chaos, das zu ordnen Schrotter immer als hoffnungslose Aufgabe empfand. Klassische Kunstwerke zeichnen sich durch eine besonders stringente Grammatik aus: Heute gilt Schrotter weltweit als Klassiker.
Grammatikalische Regeln gibt es nicht nur in der Kunst, sondern ebenso im Alltag. Wer jemals Arbeitsstätte, Wohnort oder Schule gewechselt hat, erfuhr dabei, wie durchgreifend spezifische Grammatiken unseren Alltag regeln, ohne daß wir es normalerweise bemerken. Eiserne, wenn auch unausgesprochene (weil vor Ort selbstverständliche) Normen schreiben im Alltag oft winzigste Details vor: Nicht nur den Dialek, als soziale Sprache, sondern auch wie man grüßt ob man lau, oder leise spricht, wann es (und mit wem) zum Mittagessen geht, ob man sich privat besucht und was dabei mitzubringen ist - vieles ist stillschweigend minutiös festgeschrieben, wovon der "Neue« zunächst nichts wissen kann. Er ist deshalb gut beraten, wenn er sich bis auf weiteres bedeckt hält und beobachtet. Die am bisherigen Ort gültige und inzwischen verinnerlichte Grammatik des Zusammenlebens hat am neuen Ort ihre Geltung verloren. Irgendwann einmal, wenn er die Regeln beherrscht, wird er sie auch brechen müssen, um er selbst bleiben zu können. Nicht anders erging es Schroner mit seiner Kunst.
Die Grammatik schließt als Konvention kreatives Spiel nicht aus. Marcel Duchamp, der große amerikanische Kunstrevolutionär und ein geistiger Vater Schroners, beendete Anfang unseres Jahrhunderts das Malen und widmete sich zunehmend der man »eigentlichen Kunst«, d.h. dem Schachspiel, weil es innerhalb seiner Regelgrammatik unendlich viele Möglichkeiten zuläßt. Auch die großen Schriftsteller haben die Grammatik immer wie ein Glasperlenspiel benutzt. Sie haben sie ausgereizt und, wenn nötig, ihre Regeln durchbrochen: Jetzt sind die logischen und emotionalen »Querschläger« im Gefolge grammatischer Verstöße gewollt und in ihrer Wirkung kalkuliert. Beides, der routinierte Einsatz aller grammatikalischen Mittel wie auch das Durchbrechen der Regeln im Dienste einer Vision, hält eine Sprache lebendig. Hermann Hesse zeigt in seinem Glasperlenspiel, wie der magister ludi seinen Ehrgeiz bestätigt sieht, wenn er die Grenzen des Grammmatischen erreicht, in der Hoffnung, über diese Grenzen noch gewissermaßen legitim hinwegagieren zu können.
Der große Künstler aber will die Grenze überschreiten, was grammatisch nicht legitim ist. Er bricht die Konvention einer ihm überlieferten Grammatik nicht ohne Grund. Seine Vision ruft nach Ausdrucksmöglichkeiten, welche ihm die überkommene Grammatik nicht bieten kann. Eine veraltete Grammatik erlaubt kein neues Sehen. Mit seiner neuen Vision und der neu geschaffenen Grammatik hat Schroner den Bereich der akzeptierten Konvention verlassen, in der sich sein Publikum aber noch wie selbstverständlich bewegt. Nun versteht es ihn nicht mehr, es sieht nur Fehler, wo in Wirklichkeit eine höhere künstlerische Logik waltet. Dem Publikum ist, als habe Meyer mitten unter seinen Tulpen plötzlich Brennesseln zu stehen, welch peinliche Entgleisung! Wegen des verbindlichen Charakters der Konvention empfindet das Publikum den Konventionsbruch als Störung der öffentlichen Ordnung. Es gibt Ärger, der Künstler wird in die Nähe von Kriminellen gerückt.
Wenn sich der Künstler andererseits ängstlich an die grammatikalische Konvention klammert, fühlt sich dasselbe Publikum gelangweilt. Er ist fade: Eine konventionelle Vision ist eben keine Vision, und der Künstler als Seher darf nicht bloß Handwerker sein. Unsere Kinder aber ignorieren in ihrer unmittelbaren Kreativität grammatische Regeln. Die Eltern sind überrascht von der kühnen Phantasie ihrer Sprößlinge. Sie sehen vielleicht schon den Rembrandt ihrer Zeit heranwachsen. Zugleich aber hat ihre Erziehung nur ein Ziel: das Erlernen der korrekten Grammatik, die Beherrschung des Handwerks. Die Phantasie wird in geregelte Bahnen gelenkt, um die Kinder vor späteren Konflikten mit der Grammatik und den entsprechenden Sanktionen zu bewahren.
»Das kann ich auch«, ist eine häufige Reaktion der Menschen auf Neue Kunst. Das Publikum sieht Beliebigkeit, weil keine Grammatik erkennbar ist. Es übersieht, daß der Künstler die vorhandene Grammatik erweitert hat. Seine Vision deckt neue Gesetzmäßigkeiten auf, denen die überkommene Grammatik nicht gewachsen war. Die neue, ungewohnte Grammatik Schrotters ist zunächst noch nicht ausformuliert; aber nur mit Hilfe dieser mit dem Werk evolvierenden neuen Grammatik war der Künstler überhaupt in der Lage, die Vision zu gestalten, und nur mit ihrer Hilfe wird das Publikum sie später verstehen können. Schon Goethe erkannte, daß man nicht das sieht, was man sieht, sondern nur das, was man weiß.
Auch Schrotters neue Grammatik wird eine Konvention, die zur Erstarrung neigt. Ein Künstler spürt immer die beginnende Verkrustung seiner Sprache. Er sucht dann eine Erweiterung, die sich ihm in einer veränderten Vision erschließt: Ohne neue Sprache hätte diese Vision nicht entstehen können. Zugleich mit der neuen Sprache entstand eine verjüngte Grammatik, die aber zunächst noch entwickelt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, eine Institution. Hier sind es die klassischen, kulturellen Institutionen wie das Museum, denen Vermittlungsarbeit zufällt.
Schrotters Skulptur gehört zu einer neuen Wertsphäre mit eigenen Konventionen, die vom Gewohnten abweichen. Das Museum hebt diese Wertkonvention nicht nur ans Licht, sondern verbürgt sich auch für die Qualität des Werkes nach den Maßstäben einer zukunftsorientierten, dem Publikum noch nicht erschlossenen Sprache. Wird die Skulptur Schrotters aus dem Museum herausgenommen und vom Ignoranten auf die Straße zurückgestellt, so wird nichts mehr in ihr gesehen als der gewöhnliche Schrott, weil jetzt wieder die alten Sehgewohnheiten greifen.
Der Marktwert der Skulptur entspricht damit nur noch dem Schrottwert des Metalls. Innerhalb der Wertinsel des Museums hingegen zählt nicht das Material, sondern die Kraft der Vision.
Nicht die Menge des verarbeiteten Stoffes bestimmt die Sinnlichkeit der Vision; oft ist es gerade die Minimierung des Materials - der Minirock als Herausforderung.
II. PRIVATHEIT
1. Sphärengrenzen und Biographie
Wer als Auswärtige die Grenzen einer fremden Privatsphäre überschreitet - etwa weil sie als Gast zum Abendessen geladen ist -, muß sich den dort geltenden Wertkonventionen in gewisser Weise anpassen. Wenn sie zu den Müllers kommt, dürfte sie zwar ungekämmt, ungeschminkt und in zerschlissenen Jeans erscheinen. Aber die Einladenden könnten auch Meyers sein; und denen wäre eine sehr förmliche Kleidung am liebsten. Sofern die Besucherin die Einladenden und ihre Wertkonvention nicht sehr genau kennt, wird sie sich deshalb für eine mittlere Konvention in der Aufmachung entscheiden, also einigermaßen korrekt gekleidet vor der Tür stehen. Ungekämmt und in Jeans würde sie die Meyers schockieren und gewissermaßen anpöbeln, während sie in äußerster Förmlichkeit aufgemacht wiederum die Müllers pikieren dürfte. Eine mäßig konventionelle Aufmachung hingegen müssen beide tolerieren und als »höflich« anerkennen. Müllers dürfen nicht erwarten, daß die Besucherin völlig leger erscheint, weil sie schließlich »auswärtig« und eben nicht bei Müllers zu Hause ist. Meyers wiederum dürfen an sie nicht ihre eigenen und überaus formellen Maßstäbe anlegen, weil sie nun einmal eine Fremde mit eigenen Wertkonventionen ist, denen man nicht zu nahe treten sollte.
Im Gegenteil: Meyers sollten versuchen, der Besucherin zuliebe ihre steifleinene Lebensart für die Dauer des Besuchs ein wenig zu lockern, um ihr die Möglichkeit zu einer gewissen Entspannung zu lassen. Und Müller sollte sich rasieren und vielleicht sogar zu einer Krawatte aufschwingen, während Frau Müller auch schon einmal mit dem Staubsauger über den Teppich gehen könnte. Sonst nämlich würden Müllers ihren eigenen Wertekodex dem Gast gar zu deutlich aufdrängen.
Ein solcher Abendbesuch ist für die Beteiligten eine sphärenübergreifende und in diesem Sinne öffentliche Angelegenheit, für die öffentliche Standards angeraten sind. Höflichkeit, Korrektheit, das Parfum, »Konventionalität« sind eine Art stromlinienförmiger Verkleidung der eigenen Privatsphäre Fremden gegenüber. Der Zweck solcher öffentlichen Standards ist es gerade, die eigene Privatsphäre zu schützen und zugleich der fremden nicht allzu nahe zu treten. Man nimmt sich zurück und präsentiert im »Ausland« nur, was dort nicht mißverstanden werden und passabel wirken könnte. Sehr private Bestandteile der eigenen Wertkonvention wirken jenseits der Sphärengrenze fehl am Platze.
Werte kristallisieren sich durch biographische Bindungen heraus. Man hat in seiner persönlichen Geschichte Erinnerungsfelder aufgebaut, in denen die eigene Identität wurzelt, aus denen Individualität erwächst. Das Sehen der Welt ist zugleich Erkennen und immer auch Rückerinnern. Die Erinnerungen setzen dabei den Wertmaßstab, so daß ein wertfreies Sehen der Welt nicht möglich ist. Erst die Biographie erschließt somit den Zugang zur Gegenwart und bildet eine spezifische Wertsphäre heraus. Sie ist der Schlüssel zur Welt. Aber jede einzelne Wertsphäre erkundet die Welt anders und eröffnet sich damit jeweils eine andere Welt. Eine »Welt an sich« gibt es nicht. Wenn Tausende von Menschen miteinander laufen, bewegt sich jeder einzelne dennoch in seiner eigenen Welt. Schon wegen der stark voneinander abweichenden Erinnerungsfelder sind Werte also sehr sphärenspezifisch und nicht ohne weiteres aus der heimischen in eine fremde Sphäre zu übertragen.
Das Souvenir einer Haarlocke kann die Welt bedeuten - für jemanden, dem die frühere Trägerin ihre Locke zugeeignet hat.
Dieselbe Locke sagt einem Dritten aber gar nichts und würde von ihm achtlos fortgeworfen werden. An einem alten, baufälligen Haus können so viele Erinnerungen hängen, daß gerade dieses Haus für seine langjährigen Bewohner das Kostbarste zwischen Himmel und Erde ist. Für sie ist es geronnene Vergangenheit, überall nisten Erinnerungen; Kinderlachen, glückliche und bittere Augenblicke sind in dem physischen Gebäude präsent.
Kurz: Dieses Haus ist zu einem Teil des Selbst seiner Bewohner geworden. Wer es abreißt, fügt den Bewohnern schwere Identitätsverluste zu. Die langjährigen Bewohner des alten Hauses haben im Laufe ihres Lebens eine sehr spezifische Grammatik des Erlebens gerade dieses Bauwerks entwickelt. Diese ist sehr verschieden von einer ganz anderen Grammatik, welche die Wahrnehmung der Wohnungsgesellschaft bestimmt - der Eigentümerin des Hauses. Danach belegt das Haus ein Grundstück in erstklassiger Stadtlage, es bindet also viel Kapital und muß eine entsprechende Rendite erwirtschaften. Davon kann zur Zeit jedoch keine Rede sein. Deshalb gehört das Haus weg, ein Versicherungspalast oder Ähnliches muß an seine Stelle treten.
So können Tragödien entstehen. Dem Einbrecher werden Geld und Juwelen widerstandslos ausgehändigt, aber für das wertlose Messingkreuz der Urahnin läßt sich der Inhaber erschlagen; und der letzte verbliebene Bewohner des alten Hauses verbarrikadiert sich dort und schießt mit dem Gewehr auf die anrückenden Räumungsbagger und die Polizei.
Ein Gastgeber sollte sich hüten, vor seinen Gästen jene Haarlocke herumzuzeigen, die ihm so lieb geworden ist; denn die Gäste hätten Mühe, ihre Erheiterung zu unterdrücken. Und der Gast sollte nicht die Nase rümpfen über ein wertloses Messingkreuz, das am Ehrenplatz hängt, weil dieses Kreuz in der Sphäre des Gastgebers eine Reliquie sein könnte. Der Gast in einer Fremdsphäre kennt die Biographie jener Sphäre und damit ihre Grammatik nicht. Er weiß nicht, zu welchen privaten Werten sich diese Biographie verdichtet und welche Sphärenidentität sich aus solchen Werten entwickelt hat. Winzige Details könnten von größter Bedeutung sein, ohne daß dies für den Außenstehenden ohne weiteres wahrzunehmen wäre; und deshalb ist es durchaus angemessen, wenn sich der Gast mit einigem Takt zurückhält.
2. Insider, Codes und Sprachen
Jede Wertsphäre ist nach innen in Teilbereiche von unterschiedlicher Privatheit gestaffelt. Die Sphäre hat einen sehr privaten Kern, der Außenstehenden unzugänglich bleibt. Der verliebte Besitzer jener Haarlocke etwa mag wähnen, die Angebetete teile seine Passion zur Gänze. Aber wenn sie seine Gefühle auch erwidert, so hat sie doch nicht seine, sondern eben ihre eigenen Gefühle, die sich von den seinen stark unterscheiden. Was sie fühlt, die Substanz ihrer Emotion, ist aus ihrer persönlichen Biographie hervorgegangen, die eine andere ist als die seine. Beide lieben sich wohl, aber jeder in seiner für ihn alleine charakteristischen Weise.
Gerade das macht übrigens den Reiz der Beziehung aus. Wenn verschiedene Instrumente dieselbe Melodie spielen, ist die NotenSequenz jedesmal gut herauszuhören; aber der Klang wird anders erzeugt, ist von anderer Stofflichkeit und Farbe, bleibt unverkennbar er selbst - auch im Konzert mit anderen Instrumenten. Ebenso sind die individuellen Sphären der beiden Verliebten nicht völlig zur Deckung zu bringen. Ein Teil, der privateste Kern, ist dem Partner verschlossen, weil von gänzlich anderer Struktur und in die Gefühlswelt des Partners nicht mehr zu übersetzen.
Die beiden begegnen einander in einem gemeinsamen Teilbereich ihrer persönlichen Sphären. Für sie ist dieser Teilbereich sphärenübergreifend, »öffentlich«, und bildet eine Wertsphäre für sich.
Darin lebt das Paar, hier kennt es sich aus und hat seine eigenen Traditionen und Geheimnisse entwickelt. Die Partner alleine sind Insider; alle übrigen stehen außerhalb. Nur das Paar selbst beherrscht die besondere Grammatik seiner Liebesbeziehung.
Später, wenn die Sache gut ausgeht, wird aus der dem Paar gemeinsamen Wertsphäre die von der breiten Öffentlichkeit deutlich abgesetzte »Familienöffentlichkeit«, wo man auch in Gegenwart der Kinder über Kollegen, Vorgesetzte und Freunde ungestraft herziehen und seine öffentliche Verkleidung getrost ablegen kann. Totalitäre Regimes suchen solche privaten Wertinseln zu unterwandern, indem sie etwa die Kinder - also Insider - zu Spitzeldiensten anstiften: Die Familienöffentlichkeit ignoriert den Anspruch des Regimes auf totale Durchdringung aller privaten Sphären und soll deshalb aufgebrochen werden. Georg Orwells 1984 verbildlicht die totale Veröffentlichung der Privatsphäre. Das private, individuelle Bild wird nicht geduldet, die Produktion dieser Kunst wird verboten, ein staatlicher, verlogener Realismus verordnet und prägt das Gesicht der Öffentlichkeit. Totalitäre Regime (Stalin, Hitler) haben Angst vor privaten Visionen.
Die Haarlocke löst bei den Verliebten spezifisch gefärbte Assoziationsketten aus, die auf ihre individuellen Biographien und auf das vom Paar gemeinsam Erlebte zurückgehen, und die ihre emotionale Färbung aus beiden Quellen beziehen. Außenstehende wissen von dieser Färbung nichts, sie ist nicht sichtbar und sehr privat.
Wenn also auf einer Abendeinladung das Gespräch zufällig auf den Friseur und in diesem Zusammenhang auch auf das Abschneiden von Haarlocken kommt, erlebt: das Paar dabei etwas anderes als die übrigen Gäste. Das wäre sogar dann der Fall, wenn auf der Einladung nur Paare vertreten wären, deren Damen ihren Herren jeweils eine Haarlocke überlassen hätten. Die emotionale Einfärbung beruht ja nicht eigentlich auf der Übergabe einer Haarlocke, sondern auf dem damals Erlebten, als dessen körperliches Relikt die Locke zu sehen ist. Jedes Paar lebte aber damals in einer anderen Gefühlswelt, so daß die Locke für jedes von ihnen etwas anderes symbolisiert.
Sphärenübergreifende Wertkonventionen können sehr prägend sein und private Konventionen dominieren. Die romantische Affaire zwischen Prinz und Tänzerin ist meistens zum Scheitern verurteilt, weil die Gefühle des Prinzen einer ganz anderen Grammatik folgen als die der Tänzerin. Die Gefühlsabläufe sind allzu verschieden gefärbt; die Biographien der beiden weichen in so markanter Weise voneinander ab, daß beide jeweils Grundverschiedenes fühlen und den emotionalen Konsens auf die Dauer nicht halten können. Die sozialen - also breiten Kreisen gemeinsamen - Wertkonventionen der beiden sind dann so dissonant, daß große Segmente ihrer persönlichen Sphären dem eigenen Partner unzugänglich bleiben und so zum jeweils privaten Kern des anderen fallen, wodurch die verbleibende gemeinsame Sphäre als Basis einer Liebesbeziehung zu schmal bleibt.
Das einzelne Paar entwickelt eigene Codes, um sich in der Öffentlichkeit privat verständigen zu können. Wenn einer der beiden Partner auf dem Abendbesuch eine »rote Karte« erwähnt, so mag darin das Signal für den Aufbruch bestehen. Durch einen fragenden Unterton in der Stimme, durch ein unmerkliches Neigen des Kopfes mögen sich die beiden einigen, auf ein bestimmtes heikles Thema nicht weiter einzugehen; und die Meyers mögen ihrem privaten Unmut über den unordentlichen Anzug eines Gastes dadurch Luft machen, daß sie über einen gewissen Herrn Müller berichten (ihren Nachbarn mit der laxen Privatmoral), mir dem sie auf der Straße beinahe zusammengestoßen seien. Den Gesprächspatnern sagt der Name nichts; aber tatsächlich haben die Meyers den unordentlichen Gast soeben schwer beleidigt, ohne indes ihre eigene Privatsphäre verlassen zu haben. Man hat sich in aller Öffentlichkeit vertraulich ausgetauscht.
Die private Konvention einer Wertinsel bleibt dem Außenstehenden verschlossen. Dieser erscheint den Insidern als Ignorant, der die spezifische Grammatik der Insel nicht kennt und die Äußerungen ihrer Wertkonventionen deshalb nicht korrekt zu deuten weiß. Die Insider wissen sich ein und derselben Wertsphäre verbunden. Je engagierter sie an den Wertbildungen der Sphäre beteiligt sind, desto subtiler können sie mit der Sphärengrammatik umgehen. Sie entwickeln eigene Codes und Sprachen, die nur ihnen selbst vertraut sind. Dadurch schützt sich die Wertsphäre nach außen; der Sprachunkundige wird zum Banausen.
Der erforderliche Schutz kann mißlingen. Der Bauführer, verantwortlich für die Teilrenovierung des Museums, hatte nach vollendeter Arbeit das Foyer aufräumen und dabei Schrotters Plastik mit einem Gabelstapler hinaustransportieren lassen. Durch Mörtel, Farbeimer, Gerüste und andere Arbeitsutensilien war das Meisterwerk in die falsche Umgebung geraten und hatte seine Aura verloren. An solche Möglichkeit hatte wiederum die Museumsleitung nicht gedacht, in deren Augen Schrorrer sich unübersehbar und mit Leuchtschrift in die Geschichte eingeschrieben hatte. Ein anderes mal überkam die Funktionäre einer politischen Partei in Leverkusen auf ihrer Feier im Museum das Bedürfnis nach kühlem Bier. Die Blicke wanderten suchend umher und blieben in einem Nebenraum an einer schmutzigen und fettigen Badewanne hängen. Diese wurde gereinigt, um das Bier in frischem Wasser zu kühlen. Soeben war eine der wichtigsten Arbeiten von Joseph Beuys vernichtet worden, den Prozeß gewann der Meister. Die Werksfeuerwehr des Düsseldorfer Flughafens hatte es 1996 versäumt, die Besonderheit der Sphäre eines Flughafens zu erkennen. Sie ließ dort gewöhnliche Schweißarbeiten ohne besondere Absicherung zu. Der Großbrand kostete viele Menschenleben und verursachte ungeheuere Sachschäden. Auch Politiker vertun sich in der Sphärengrammatik, wenn sie zu Sparzeiten kulturelle Biotope gedankenlos vernichten, die nie wieder aufleben werden. Sie schließen kurzerhand Museen und Theater, sie entziehen freien Gruppen die Zuschüsse. Damit zerstören sie kulturelle Artenvielfalt, während sie im Bereich der Umwelt sogar bereit sind, wegen einiger Ameisen Bauverbote auszusprechen.
Wenn Mediziner für alles und jedes lateinische oder griechische Bezeichnungen verwenden, so dient das nicht zuletzt der berufsöffentlichen, dem Patienten gegenüber aber privaten Kommunikation der Ärzte untereinander. Man kann sich in Ruhe über den Zustand des Patienten verbreiten, ohne daß dieser - wiewohl physisch höchst präsent - zuhören könnte. Zugleich ist es wichtig, das Gespräch auf Insider zu beschränken, die nach den Regeln der Kunst ausgebildet wurden, und einen etwaigen Outsider auszugrenzen, der sich eingeschlichen haben könnte: Wenn er schon nicht die Fachsprache beherrscht, so wird der Ignorant wohl auch nicht kunstgerecht mit den Patienten umzugehen wissen.
Das »Fachchinesisch« so vieler wissenschaftlicher Disziplinen hat nicht nur die Aufgabe, der Präzision einer Verständigung über hochspezifische Details zu dienen. Es soll auch ausgrenzen, ist auch Sicherung und Kastenzeichen. Die Insider geben sich untereinander als solche zu erkennen und verbannen die Außenseiter aus der innersten Sphäre ihres Gesprächs; sie wollen unter sich sein.
Die Möglichkeiten, in der Öffentlichkeit privat zu kommunizieren, sind indes begrenzt. Mediziner können sich im Beisein des Patienten zwar über Knochenbrüche und Hautschürfungen privat austauschen, nicht aber über den Kurs des Dollar oder über das letzte Bundesligaspiel. Das berührt andere Wertsphären, auf die der medizinische Code nicht geeicht ist. Da ihr Privatcode nunmehr versagt, müssen die Mediziner auf die öffentliche Sprachkonvention zurückgreifen, die aber auch dem Patienten geläufig ist; und nun mag sich herausstellen, daß ausgerechnet er und einer der Assistenzärzte Insider sind, die sich über Code als solche ausweisen und über die umstrittene Abseitsentscheidung beim letzten Bundesligaspiel diskutieren. Chefarzt und übrige Begleitung finden sich unversehens zu krassen Außenseitern degradiert.
In der alten UdSSR übernahmen unsäglich langweilige Rituale der Partei die Rolle eines Privatcodes für Insider. Wie sollte man den vielen Funktionsträgern im weiten Land - immerhin Millionen von Parteifunktionären - unauffällig signalisieren, daß ein Kurswechsel bevorstand und man sich rechtzeitig umorientierten möge? Auf der Tribüne erschien das Politbüromitglied XY nicht als Vierter, sondern erst als Fünfter; oder seine Positionen und Verdienste wurden in der Prawda ein wenig anders aufgezählt, als es bisher höfischem Ritual entsprochen harte. Dieses Ritual mußte starr und peinlich genau sein, damit winzige und für Außenseiter unmerkliche Abweichungen in der Grammatik den Insidern sogleich als Signale kenntlich wurden und zuverlässig zu entschlüsseln waren. Oft war es eine wahre Kunst, Veränderungen im Code zu dechiffrieren. Dafür gab es im Ausland bekannte »Kreml-Astrologen«, intime Kenner der ausgefeilten Grammatik des Kreml.
3. Kreativität als Schöpfung
Zur Hochzeit hatte Schrotter von seiner Schwiegermutter eine Bibel geschenkt, bekommen, um seinen Mangel an Religiosität zu beheben. Tatsächlich las er gelegentlich darin, auch im Alten Testament. Als Künstler interessierte ihn der Prozeß der Schöpfung besonders. Als Gott die Welt aus dem Chaos schuf, trennte er Licht von Finsternis, Himmel von Erde, Erde von Meer und fugte Leben in vielfältiger Form hinzu. Im Schaffensprozeß ging Gott Schritt für Schritt und Tag für Tag vor. Am Ende eines jeden Tages vergewisserte er sich, daß sein Werk gelungen war. Nach sechs Tagen war seine Schöpfung vollendet, und Gott ruhte den siebten Tag.
Schrotter erkannte Ähnlichkeiten zum eigenen Schaffensprozeß. Immer wieder begann er mit dem Gefühl der Auflehnung gegen den völlig inakzeptablen Status quo. Die Welt war nicht in
Ordnung, ein Chaos war sie. Ohne es zunächst zu bemerken, hatte sich in Schrotter allmählich eine Vorstellung von der Wirklichkeit entwickelt, die in latentem Konflikt mit dem lag, was jeder andere für Realität hielt. Irgendwann befand er dann, daß die konventionelle Sicht der Welt falsch sei, sie entsprach nicht mehr seiner persönlichen Vorstellung. Bei solchen Gelegenheiten sah Schrotter, daß er sich entscheiden mußte. Einmal konnte er sich der konventionellen Weltsicht anpassen und damit den eigenen Glauben verstoßen. Die Alternative, die zu ergreifen Schrotter niemals zögerte, bestand darin, der von allen geteilten Weltsicht zu trotzen und auf seiner sehr eigenen Sicht zu bestehen.
Seine Überzeugung war stärker als die allgemein akzeptierte Realität: Glaube kann Berge versetzen.
In Situationen wie der Schrotters gibt es drei typische Haltungen. Der Schöpfer wird die Realität unerschrocken nach seiner Vision umformen. Der Empfänger einer künstlerischen Botschaft hört diese wohl und erkennt das Konfliktpotential; da er aber furchtsam ist und passiv, beugt er sich am Ende der herrschenden Konvention. Der Mitläufer sieht über das Konfliktpotential geflissentlich hinweg und geht den Weg des geringsten Widerstandes. Das latente Chaos, das die Leidenschaft des Schöpfers in Wallung bringt, ist dem Mitläufer ebenso zuwider wie Leidenschaft überhaupt. Leidenschaft schafft Leiden, schmunzelte Schrotter gelegentlich beim Wein. Ausnahmsweise war er einmal derselben Meinung wie die zahllosen Mitläufer. Während für die Allgemeinheit die Welt noch in Ordnung ist, entschließt sich der Schöpfer, sie nach seinen Träumen zu verändern. Aber zu dieser Zeit ist er der einzige, der das für unerläßlich hält. Um den erahnten Wandel zu bewirken, muß er eine genuine Idee (prima idea) darüber entwickeln, was zu ändern sei und wie das geschehen soll. Diese Idee bestimmt sein innovatives Handeln, sie konstituiert die Ordnung, nach der die Welt neu zu formen ist. Anders jedoch als Gott während der Schöpfung des Universums, sieht sich der menschliche Schöpfer mit einer bereits existierenden Ordnung konfrontiert, die er für falsch hält.
Für den schöpferischen Menschen ist eine als falsch erkannte Ordnung unhaltbar und nicht länger zu verantworten. Unter der Decke dieser Scheinordnung liegt für ihn das Chaos, das es durch Neuschöpfung zu ordnen gilt. Die Scheinordnung droht den Schöpfer zu ersticken, da sie ihm die Hände bindet und ihn mit ihren abgestorbenen Denkkategorien daran hindert, die Dinge wahrheitsgemäß zu benennen. Das ptolemäische Weltbild erklärte die Welt in einer Weise, die es Galileis Zeitgenossen unmöglich machte, die Wahrheit zu erkennen. Fünfhundert Jahre brauchte die Kirche, um das Fehlurteil gegen Galilei zu revidieren.
Der schöpferische Prozeß ist schmerzhaft. Der Schöpfer muß eine bestehende Ordnung zerstören und damit auf Sicherheit verzichten. Er muß ständig Licht von Finsternis scheiden, d.h. Richtiges vom Falschen trennen, und zwar unter dem Diktat einer Konvention, die das Falsche unerbittlich für gültig erklärt. Im Lichte der neu entstehenden Ordnung erweist sich der Status quo im übrigen als nicht in Gänze falsch, sondern nur in Teilen. Richtiges und Falsches sind eng ineinander verwoben. Im Laufe des Schöpfungsprozesses kann sich auch die neue Ordnung als unvollständig oder gar falsch erweisen oder in Konflikt mit der prima idea geraten. Auch diese kann sich als nicht adäquat erweisen. Der Schöpfer muß ständig mit latenter Falschheit ringen, die in der etablierten oder in der neu entstehenden Ordnung versteckt sein kann oder auch in der ursprünglichen, der prima idea. Selbst der Weg zum Neuen ist so neu, daß er zunächst im Experiment erforscht werden muß. Angesichts solcher Schwierigkeiten löst sich die neue Idee im Laufe des Prozesses meist wieder auf, und der Status quo überlebt. Nur wenn der Schöpfer außergewöhnlich stark und ausdauernd ist und seine neue Idee von hoher Energie, kann ein neues Universum geordnete Gestalt annehmen.
Der kreative Prozeß ist von enormer Vieldeutigkeit. Jeder einzelne Schritt ist voller Imponderabilien, jede Entscheidung kann sich als Irrtum erweisen; und Kriterien, nach denen man die Qualität beurteilen könnte, existieren noch nicht. Solche Kriterien ergeben sich erst mit der Zeit. Die Idee muß sich als wahr erweisen, die Ordnung muß fähig sein, die Welt zum Besseren zu wenden; und dies muß von der Öffentlichkeit erkannt und akzeptiert werden. Erst so entstehen langsam Wertkonventionen, aus denen die Beurteilungskriterien hervorgehen.
Nicht einmal der Erfolg ist eine Garantie für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Bei gewöhnlichen Tätigkeiten erkennt man am Verhalten der Umgebung, ob man seine Sache richtig macht oder nicht. Man lernt aus den Reaktionen und verbessert auf diese Weise die eigene Qualität. Jeder Handwerker hat nach einigen Jahren erfahren, wie gut er ist und was er vielleicht verbessern könnte. Beim genuin schöpferischen Prozeß fehlt diese Rückkoppelung, weil die Umgebung über Gültigkeit und Bedeutung des entstehenden Werks noch weniger weiß als der Schöpfer selbst. Die fehlende Kontrolle muß durch Instinkt und Glück ersetzt werden. Pablo Picasso hatte mit allem Glück, was er anfaßte. Andere, sehr erfolgreiche Künstler aber erlagen früher oder später dem Risiko des völligen Qualitätsverfalls. Beispiele sind Giorgio de Chirico, Antonio Carril, Erich Heckel und Otto Dix.
Nicht in allen Fällen war indes nachlassende Qualität der Grund für mangelnde Anerkennung durch die Zeitgenossen, wie die späten Arbeiten Rembrandts oder Francisco Goyas belegen. Andere Künstler fanden zu Lebzeiten überhaupt keine Anerkennung, so etwa Vincent van Gogh. Erfolg und Anerkennung können sich aber auch irrtümlich und nur für begrenzte Zeit einstellen wie bei Bernard Buffet und Ernst Fuchs. In solchen Fällen tendiert visuelle Kunst dazu, in Richtung Mode zu degenerieren.
Sogar Gott vergewisserte sich vor jedem weiteren Schritt, daß sein Werk bis zu diesem Punkt gut war. Der Schöpfungsprozeß neigt dazu, außer Kontrolle zu geraten: Leicht kann sich der Schöpfer in unwichtigen Details verlieren, ohne es zu merken. Deshalb muß er Schritt für Schritt vorgehen und seine Arbeit immer wieder unterbrechen, um sein Werk kritisch zu prüfen. Diese Pausen verleihen dem Prozeß einen Rhythmus, der auf die entstehende neue Ordnung übergeht. Bis in unsere Tage hinein wird die Zeit durch Tag und Nacht gegliedert, seit Gott das Licht von der Finsternis schied.
Der Künstler schafft nicht nur eine einzelne Komposition, sondern viele. Keine davon ist einfach ein neues Exemplar in einer Serie ähnlicher Gegenstände. In den Augen des Künstlers ist jede neue Komposition ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer neuen Ordnung. Um seine wirkliche Bedeutung erfassen, muß das Einzelwerk im Zusammenhang mit dem gesamten OEuvre gesehen werden. Andererseits ist jede einzelne Komposition ein Universum für sich. Wie wir noch sehen werden, ist zum Verständnis dieses Universums ein eigener kreativer Prozeß erforderlich. Wiederholung und Nachahmung können nicht Kunst zum Ergebnis haben, weil ihre Aufnahme keinen eigenen kreativen Prozeß erfordert.
Irgendwann kommt jede Schöpfung zum Ende. Der Künstler schließt eine Komposition ab, um etwas Neues zu beginnen. Es ist schwierig und nicht ungefährlich zu entscheiden, ob ein Werk abgeschlossen ist. In der bildenden Kunst kann ein zusätzlicher Pinselstrich die Qualität eines Bildes verbessern oder unwiederbringlich zerstören; aber das kann man erst sehen, wenn er ausgeführt ist. Große Künstler neigen in dieser Hinsicht zu äußersten Risiken. Wenn sich dann herausstellt, daß ein Werk unter den Standard des übrigen OEuvres abgesunken ist, mag sich der Schöpfer gezwungen sehen, die Existenz des Bildes physisch zu beenden. Kreativität kann sich gegen ihr eigenes Produkt wenden.
4. Schöpfung und Rezeption
Nach ihrer Vollendung gerät die Komposition außer Kontrolle des Künstlers und beginnt, wie ein erwachsen gewordenes Kind, ihr eigenes Leben. Im Verlauf des Schöpfungsprozesses lag es beim Künstler alleine, sein Tun zu bewerten. Jetzt bewertet das Publikum, nicht mehr der Künstler. Es versteht sich von selbst, daß die Öffentlichkeit nicht unbedingt dieselben Kriterien anwendet, wie sie der Schöpfer entwickelte. So kommt es zu Mißverständnissen. Dem Publikum kann ein Kunstwerk mißfallen, das für den Künstler von großer Wichtigkeit ist. Nach Schöpfung des Universums vermochte selbst Gott den Sündenfall nicht zu verhindern. Während des kreativen Prozesses konnte der Künstler das Objekt nach Belieben formen; die Reaktion des Publikums aber entzieht sich seiner gestaltenden Fähigkeit. Es bleibt offen, ob und in welcher Weise seine Schöpfung die Öffentlichkeit beeindruckt.
Der Betrachter eines neuen Kunstwerks steht vor einem ernsten Dilemma. Er hat den kreativen Prozeß nicht selbst mitgemacht, aus dem die Komposition hervorging. In seinen Augen ist deshalb die allgemein akzeptierte Wirklichkeit noch gültig, die neue Ordnung hingegen unverständlich. In dem unbekannten Werk nistet Gefahr, es wirkt bedrohlich. Für den Betrachter ist die Konvention wie eine Festung, die Sicherheit bietet, und die er nur verläßt, wenn die Verlockung des Neuen das Risiko des Unbekannten aufwiegt. Sofern er ein Empfänger ist und nicht bloß Mitläufer, kann er das im Werk enthaltene Konfliktpotential durchaus erkennen. Da er aber dem Bewährten verhaftet ist, muß er auf die Sicherheit einer neuen Antwort zumindest hoffen können, bevor er sich dem Risiko stellt. Das Werk muß ihn förmlich bezwingen, um seine Neugier zu wecken und ihm den Mut zu geben, ins Neuland vorzudringen. Ein Gang nach Canossa beginnt.
Dieser gelingt, wenn dem Betrachter die neue Antwort des Schöpfers unversehens greifbar vor Augen steht. Erst im Besitz der Antwort findet er die Sicherheit, die alte Konvention und ihren Schutz in Frage zu stellen. Er wird ein anderer Mensch, kann sich neuen Fragen öffnen und damit die vielfältigen Antworten des Kunstwerks auszuloten beginnen. Allmählich erschließt er sich die Grammatik, so daß immer neue Antworten zugänglich werden. Ein eigener kreativer Prozeß macht es ihm möglich, die Qualität der künstlerischen Vision zu würdigen. Wir werden noch sehen, daß viele Hilfestellungen diesen Prozeß begleiten müssen.
Die neue Antwort war im Kunstwerk bereits vorhanden, bevor sie sich dem Betrachter mitteilte. Solange das aber nicht der Fall war, konnte dieser die Antwort nicht wahrnehmen und sich deshalb auch nicht den Fragen öffnen, die den Künstler zu seiner Schöpfung inspirierten. Im Zustand der Unwissenheit konnte er nicht erkennen, ob das Werk genuin Fragen stellte und beantwortete. Er konnte also nicht sagen, ob es sich um Kunst handelte. Ein objektives Kriterium, mit dem dies zu entscheiden wäre, gibt es nicht und kann es nicht geben.
Oft ärgerte sich Schrotter über einen Kollegen, der ihn aus Mangel an eigenen Einfällen imitierte und dann als der Ältere so tat, als ob er eine Vaterfigur zu spielen hätte. Schrotters Skulpturen erschienen einem Betrachter, der sie sich noch nicht erschlossen hatte, als unwegsames Labyrinth, das sich aber im Augenblick des Erkennens als von großer Klarheit erfüllt darstellte.
Schrotter versetzte sich in die Lage eines Betrachters, den es vor eine Skulptur seines Kollegen verschlug. Die mühsame Suche nach der Wahrheit mußte vergeblich sein, da dem Werk die Vision fehlte. Eine Antwort war nicht vorhanden, Fragen waren nie gestellt worden. Der Betrachter indessen, dem sich das Schein-Werk nicht erschloß, mochte sich eigenes Unvermögen vorhalten und mißmutig vor einen echten Schrotter treten. Nun jedoch mangelte es ihm an Selbstvertrauen. Wollen die mich narren? Jetzt war es Schrotter, auf den sich der Ärger richtete.
Es ist eine mühsame und zeitraubende Aufgabe, das Werk eines unbekannten Künstlers zu evaluieren. Warum sollte sich jemand dieser Mühe unterziehen, solange nicht klar ist, ob sich darin wirklich ein Universum verbirgt? Nur zu häufig kann das gelobte Land sein Versprechen nicht einlösen. Wir haben es mit einem Teufelskreis zu tun, den weder das Kunstwerk für sich alleine durchbrechen kann noch der einsame Betrachter. Hilfe von außen ist notwendig. Auch Schrotter stand vor diesem Problem; in seinem Falle war es der Galerist, der ihm aus dem Teufelskreis heraushalf.
5. Geburt einer kulturellen Wertsphäre
Wo es um neue Sehweisen geht, spielen Insider und ihre Codes eine besondere Rolle. So war es zum Beispiel für Edwin Schrotter ke